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Impfskeptiker

Eine Frage des Glaubens

Sie schreien auf Demos, randalieren in Arztpraxen oder bleiben diesen ohnehin fern, weil sie sich zuhause lieber selbst mit Pflanzenextrakten behandeln. Das Bild des Impfskeptikers wird gerne überzeichnet, das Spektrum reicht aber weit. Klar ist: Die Haltung zur Corona-Impfung spaltet: Kollegen, Freunde, Familien – und die Positionen erhärten auf beiden Seiten. Warum es schwer ist, über Fakten zu diskutieren, wer die Impfskeptiker sind und wie man im konstruktiven Dialog bleiben kann.

Claudia Tschabuschnig
„Die Wissenschaft ist in Wirklichkeit ein Sammelsurium unterschiedlicher, manchmal widersprüchlicher Paradigmen, Forschungsstile und Fachkulturen“, sagt der Soziologe Alexander Bogner.

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Martin* zu treffen war nicht leicht. Die letzten Monate hat er länger in Quarantäne verbracht als außer Haus. Nach der Delta-Variante hat ihn auch Omikron erwischt. „Sollten neue Varianten kommen, werde ich sie wohl auch erwischen“, scherzt er während wir einen Hügel nahe dem Wienerwald begehen. Der knirschende Schnee und die leichte Steigung lassen den Mitte 30-Jährigen schnaufen.

Eine Skepsis gegenüber Wissenschaft sei Grund genug, sich nicht impfen zu lassen, erklärt der studierte Politikwissenschafter. Seine Einblicke in die Forschungsarbeit würden ihn darin bestätigen. Näher ausführen möchte er das nicht, denn er wolle seine Meinung niemandem auf die Nase binden. Er sei vorsichtig geworden, seine Haltung zu äußern.

Martin zählt zu der Gruppe von Menschen, die skeptisch oder ablehnend gegenüber der Corona-Impfung sind und sich damit häufig isolieren. Um dennoch in Dialog zu kommen habe ich vier Impfskeptikern getroffen und nachgespürt, was sie zu ihrer Haltung bewegt hat und wie sich diese auf ihren Alltag auswirkt.

Martin hat sich bereits vor der Quarantäne immer mehr zurückgezogen. Die gegen Impfskeptiker gerichtete Feindseligkeit bereite ihm Sorgen, besonders die Hetze, die ihn an die Geschichtsstunden aus der Schulzeit erinnert, als über die NS-Zeit gesprochen wurde. Bei jedem Nachfragen verstummt der wortgewaltige Verbophile, zu viel Angriffsfläche bietet sich. So versinkt er weiter in Gedanken und auch alles Übrige im Schnee.

Lernprozess auf offener Bühne

Martin ist auch Teil einer immer größer werdenden Gruppe von Menschen, die Misstrauen in die Wissenschaft hegen und Kritik an deren Widersprüchlichkeit üben. Mit dem Corona-Ausbruch lief die Publikationsmaschinerie auf Hochtouren und bespielte täglich verschiedenste Kanäle mit neuen Erkenntnissen, die zum Teil wenig später korrigiert oder widerlegt wurden. Genauso funktioniert Wissenschaft und daran ist nichts schlecht.

„In der Coronakrise führt die Wissenschaft ihre eigenen Lernprozesse sozusagen öffentlich und in Echtzeit vor“, schreibt der Soziologe Alexander Bogner in einem Essay für die ÖAW. „Die Wissenschaft ist in Wirklichkeit ein Sammelsurium unterschiedlicher, manchmal widersprüchlicher Paradigmen, Forschungsstile und Fachkulturen.“ Wissenschaft versucht, systematisch die Wahrheit zu entdecken, doch sind aktuelle Erkenntnisse vorläufig, Theorien unbestimmt, Einschätzungen fehlerhaft und viele Fragen bleiben offen. Korrekturen, Revisionen und Unwissenheit gehören dazu. Was man für wahr hält, kann sich später als falsch erweisen, wissenschaftliche Thesen sind immer empirisch unbestimmt, egal wie gut und groß der Datensatz ist und Menschen sind nun mal auch fehlbare Wesen. Diese Handhabe ist für viele Menschen schwierig.

Kausalität in der Medizin oft schwer zu belegen

Ursachenforschung und die Suche nach Kausalität sind das Herzstück der Wissenschaften. Viele Ursachen sind komplex, unsichtbar und haben indirekte und damit oft weitreichende Auswirkungen. Vielen Menschen fällt es schwer, mit weit entfernten, komplexen und indirekten Einflüssen umzugehen. Aus unserer Erfahrung sind wir ja nur mit alltäglichen Ursachen in unsere Umgebung vertraut, die sich auf Objekte wie Personen, Autos und Blumenvasen beschränken. Menschliche Akteure und ihre Handlungen sind die hervorstechendsten Ursachen, die wir aus Erfahrung kennen. Dies ist vermutlich der Grund, warum Angehörige vieler ethnischer Religionen etwa Dämonen und Hexen für unerklärliche Ereignisse verantwortlich machen.

Selbst in der Wissenschaft ist es schwierig, eine Kausalität durch experimentelle oder andere Beweise zu untermauern. Besonders im Bereich der Medizin, da jeder Mensch einen anderen Lebensstil pflegt und andere physische Voraussetzungen mitbringt. Es braucht also viele Studien. Generell muss für eine Kausalitäthypothese die Ursache der Wirkung zeitlich vorausgehen und zwischen den beiden muss ein statistischer Zusammenhang bestehen, auch dann, wenn man Drittvariablen weglässt.

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Der Goldstandard der Forschung sind randomisierte kontrollierte Studien, bei denen Studienteilnehmer per Zufall unterschiedlichen Gruppen (z.B. Medikament A oder B bzw. Medikament oder Placebo) zugeordnet werden. Doch werden diese ihrem Anspruch oft nicht gerecht. Schuld daran: unveröffentlichte oder falsch berichtete Studien. Studien, bei denen nichts herausgekommen ist oder das Gegenteil dessen, was sich Wissenschafter oder Sponsoren gewünscht hatten (etwa, dass ein Medikament wirkt), werden nicht veröffentlicht. „Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Studie nicht publiziert wird, ist zwei bis dreimal größer, wenn ihre Ergebnisse dem jeweiligen Sponsor missfallen“, sagt der britische Mediziner und Autor Ben Goldacre. Projekte wie RIAT versuchen, dem entgegenzuwirken und die Protokolle wieder ans Licht zu bringen.

Ein anderer Missetäter ist der Publikationbias, die statistische verzerrte Darstellung der Datenlage in Wissenschaftsmagazinen, indem Studien mit „positiven“ bzw. signifikanten Ergebnissen bevorzugt werden. Beides verstößt gegen die grundlegende wissenschaftliche und ethische Verantwortung. Forscher pochen zudem auf Zugang zu Primärdaten und Studienprotokolle, um die Aussagekraft der Evidenzbasis zu erhöhen.

Diskurs über Diskurs

Mit dem Aufkommen des Coronavirus und dem Anstieg von Studien wurden viele Mängel sichtbarer, welche die Wissenschaft selbst wiederum öffentlich zum Diskurs machte. Darunter vor allem der Trend zur Publikation von „Preprints“ bedingt durch die Nachfrage nach raschen Ergebnissen. Die Veröffentlichung kam häufig also ohne Peer-Review-Verfahren (der Begutachtung einer wissenschaftlichen Arbeit durch andere Forscher, Anm.) aus. Eine Methode, die Fehler im besten Fall aufspüren soll, wurde durch die explosionsartige Zunahme der Preprint-Forschung während der Pandemie in einem noch nie dagewesenen Ausmaß außer Kraft gesetzt.

210.183 Covid-Publikationen (darunter auch essays) wurden von Jänner 2020 bis August 2021 veröffentlicht unter der Feder von 720.801 Autoren aus 174 Wissenschaftsdisziplinen, weniger als zehn Prozent von ihnen haben zu anderen Viruserkrankungen geforscht. In manchen Fällen waren die Fachgebiete der Autoren weit von COVID-19 entfernt. So veröffentlichte ein Experte für Solarzellen eine Studie zur Epidemiologie von COVID-19 bei medizinischem Personal. Selbst Experten, die sich in ihrer früheren Arbeit auf weit entfernte Disziplinen wie Fischerei, Ornithologie, Entomologie oder Architektur spezialisiert hatten, veröffentlichten zu COVID-19.

Vorwurf der einseitigen Berichterstattung

Die Studien wiederum landeten nach Publikation in Fachjournals in den Medien, wobei oftmals die Trennung zwischen Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus aufgehoben wurde, indem etwa Presseaussendungen 1:1 kopiert werden.

Mit Ausbruch der Corona-Pandemie wurde die Kritik an „den Medien“ lauter, sie betrieben „Panikmache“ und übten zu wenig Kritik an den zur Eindämmung des Virus verhängten Maßnahmen, hieß es etwa. Generell sollten Medien als „vierte Gewalt“ im Staat Politik und den Mächtigen auf die Finger schauen und prüfen, ob Grundrechte eingehalten werden. Viel blieb davon nicht übrig, meint eine von der Rudolf-Augstein-Stiftung in Auftrag gegebenen Umfrage (PDF). Untersucht wurden 5.000 Beiträge (April 2020 bis April 2021) von elf Leitmedien, darunter FAZ, Süddeutsche Zeitung, Welt, Bild, Spiegel und Nachrichtenformate von ARD und ZDF.

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Die Forscher resümieren, dass sich Medien in der Pandemie berufen sahen, Politik und Gesellschaft zu warnen und eine gewisse Richtung vorzugeben, dabei agierten sie regierungsnah – indem sie „ähnlich wie die Politik, überwiegend für harte Maßnahmen plädierten“ und gleichzeitig regierungskritisch, weil ihnen die Maßnahmen oft gar nicht hart genug erschienen oder aus ihrer Sicht zu spät kamen. Negative wirtschaftliche und gesundheitliche Folgen harter Maßnahmen wurden selten thematisiert.

Die Gefahr von „science says“

Medienwissenschafter kritisieren vor allem die Einseitigkeit der Berichterstattung besonders in den letzten Monaten der Berichterstattung. Es wurden vorrangig die Meinungen von Politikern und Virologen abgebildet, kaum zu Wort kamen Forscher aus anderen Wissenschaften, wie der Psychologie, Soziologie oder dem Bildungsbereich.

Die Vorliebe vieler Medien über einzelne Experten, einzelne Studien und Argumente zu berichten reichen zudem nicht, um den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse abzubilden. Wissenschafts-Häppchen sind oft nicht aussagekräftig und suggerieren den Lesern einen Konsens, wo es keinen gibt, fetischisieren einzelne Studien und Personen, und vermitteln ein unstetes und chaotisches Bild wissenschaftlichen Fortschritts. Der britische Mediziner und Autor Ben Goldacre schreibt in Bad Science (2008), dass es für fast jede Theorie, gleich wie verrückt sie scheint, mindestens eine stützende Studie gibt. All das kann zu Misstrauen führen.

Krankheiten als Lernstufe

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Peter hat wie viele andere Impfskeptiker ein generelles Misstrauen gegenüber Massenmedien, die er auch als „Staatsmedien“ betitelt und der Zensur und Propaganda bezichtigt. Peter ist „kein Freund des Impfens“, vor allem aber misstraut er den neuen (zB. mRNA-Impfstoffen). Die Corona-Pandemie hält er für ein „großflächiges Experiment“, erzählt er und zupft an einer Saite, die er in den Rahmen eines Tennisschlägers gespannt hat. „Früher, als man das noch mit der Hand gemacht hat, hat man auf den Klang geachtet, um zu sehen, ob die Spannung passt“. Nun stimmt der Kinesiologe auch seinen Körper darauf ab, was ihm gut tut, über Muskelentspannung etwa. „Bei der Impfung kommt immer ein ‚Nein‘“, sagt er. Wenn er nicht im Tennisgeschäft steht und Schläger anfertigt, versucht er als Tennistrainer, die Blockaden seiner Schüler zu lösen, körperlich wie mental.

„Jedes Problem, das sich einem stellt, hat mit mir zu tun und fordert auf etwas zu lernen“, ist er überzeugt. Auch das Coronavirus ist für Peter eine Lernstufe. Die Impfung würde diese bloß beseitigen ohne sich dem eigentlichen Problem zu stellen, glaubt er und erinnert sich an eine Virusinfektion in seinem Auge, die er mit 18 bekam und seine Tenniskarriere beendete. Sie zwang ihn nach neuen Berufswegen zu suchen, was ihm auch gelang.

Hang zu Alternativen

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Damit folgt Peter auch den Ideen der Anthroposophie, bei der Krankheit den Sinn der Stärkung des Körpers hat. Anthroposophische Ärzt:innen meinen etwa, dass Kinder bestimmte Krankheiten durchmachen müssen, weil sie das auch spirituell weiterbringen würde. In der Waldorf-Pädagogik wird der Mensch ohne die stärkende Wirkung durch die Überwindung von Krankheiten immer schwächer und kränker, heißt es in einem Blog-Beitrag einer anthroposophischen Ärztin, die andere Ärzt:innen in anthroposophischer Medizin ausbildet. Wolfgang Tomaschitz, Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft Österreich, besteht hingegen darauf, dass die Impfentscheidung eine individuelle ist. Er glaubt zudem nicht, dass in Waldorfschulen die Impfskepsis besonders groß sei.

Tendenziell ist die Impfbereitschaft derer, die an die Wirksamkeit alternativer Heilmethoden glauben, geringer. Einer Studie der Uni Wien zufolge meinen mehr als die Hälfte der Unterstützer von Corona-Demonstrationen, dass man sich mehr auf „den gesunden Menschenverstand und weniger auf wissenschaftliche Studien verlassen soll“. Unter den Demonstrations-Ablehnern waren es 40 Prozent. Rund 60 Prozent der Befragten glauben an Homöopathie, unter den Nicht-Unterstützern waren es 43 Prozent. Interessant ist auch wie sich das esoterische und verschwörungsideologische Weltbild ähneln. Bei Theorien glaubt man an eine verborgene Wahrheit hinter den Dingen und teilt die Welt in Gut und Böse. In der Esoterik heißt es eben oft, es gebe Kräfte des Lichts und Kräfte des Dunkels, die im Verborgenen agieren. 

Die Verankerung der Anthroposophie, wie in ehemaligen Alternativ-Milieus, wo stark auf Ganzheitlichkeit und Selbstverwirklichung geachtet wird, machen Soziologen gerne als Grund für die hohe Quote an Ungeimpften über 12 Jahren im deutschsprachigen Raum, und eben auch Österreich, aus. Ein weiterer wird in den föderalen Strukturen gesehen und einer gewissen Skepsis gegenüber dem Bund. Im Vergleich zu südeuropäischen Ländern gibt es auch weniger strukturell verankerte Solidaritätsbeziehungen, bei denen etwa mehrere Generationen zusammenleben und auf den Schutz der Älteren geachtet wird. Auch die Etablierung von starken rechtspopulistischen Parteien spiele eine Rolle.

Die Macht des Umfelds
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„Geiles Bandl“, sagt ein Kunde, der gerade einen Schläger abholt. Das Geschäft, das Peter seit Jahrzehnten in einem Tennisclub in Mödling führt, ist sein zweites Zuhause. An den Wänden hängen eingerahmte Zeitungsausschnitte der Tennisprominenz Österreichs. Über der Kassa thront ein Bild von Thomas Muster, der 1995 bei der  French Open in Paris mit einem von Peter gespannten Schläger spielte und sich den Titel holte. Das Geschäft läuft, die Kundschaft schlägt sich an diesem Vormittag ab und auch Peters Handy bleibt nie lange still. Nur zwei Kunden haben wegen Peters Haltung zur Impfung beschlossen, ihre Schläger nicht mehr bei ihm bespannen zu lassen, erzählt er. Kritik begegne ihm dennoch selten. Seinem elfjährigen, ungeimpften Sohn dagegen wurde vom Lehrer gesagt, er sei als Ungeimpfter schuld daran, wenn seine Großmutter sterben sollte.

Die gemeinsamen Kinder waren der Grund warum sich Peters Frau impfen ließ, nämlich damit sie diese, kämen sie ins Spital, auch besuchen könnte. Auch sie war impfskeptisch, glaubt aber im Gegensatz zu Peter an die Schulmedizin, an „die Apotheke“, wie er sagt. Peter hingegen geht kaum zur Ärzt:in, informiert sich im eigenen Kreis an Experten. Später träufelt er sich ätherisches Öl in die Schutzmaske, eine antivirale Mischung. Ihm hilfts.

Wenn Freunde und Familie positiv zur Impfung eingestellt sind, kann das abfärben, ermittelten Forscher des Leibniz-Instituts für Wissensmedien in einer Studie. Freilich nicht bei allen. Menschen, die Impfungen grundsätzlich ablehnen oder bereits sehr tief in ein verschwörerisches Weltbild abgetaucht sind, sind schwerer zu erreichen. Sie würden sich aber ohnedies ein Umfeld finden, dass ihre Ideen unterstützt.

Für Andrea* war die Familie kein entscheidender Faktor in der Impfdebatte. Die Familie, darunter der Sohn, der in einem anderen Bundesland wohnt, sowie ihr Ex-Mann, haben Andrea wegen ihrer Abwehr sich impfen zu lassen als dumm abgekanzelt. Dialog gibt es keinen und wenn ist er kränkend. Für Andrea ein Wechselbad aus Trauer und Wut. Die letzten Jahre haben ihr stark zugesetzt. „Sowas haben wir noch nie erlebt“, sagt die Mitte 60-Jährige. Besonders der Lockdown für Ungeimpfte war für sie „eine Zäsur“. Auch andere politische Maßnahmen haben dazu geführt, dass die Lehrerin mit rotem Parteibuch aus der Partei ausgetreten ist. Ihre Haltung und Sorgen sieht sie politisch nicht abgebildet. In einem Wutanfall wollte sie einmal eine Österreichfahne mit Aufschrift „Demokratie-Wähler“ auf dem Hausdach anbringen, ihr Lebensgefährte brachte sie im letzten Moment davon ab.

Verhärtete Fronten

Gefühle wie Ärger oder auch Trauer drücken Bedürfnisse aus, betont die Wirtschaftspsychologin Laura Nachreiner, die in einer Umfrage „Trotz“ als einen der Hauptgründe von Ungeimpfte enttarnt hat. Der Psychologin zufolge ist Trotz eine Mischung aus Ärger und Trauer. Ärger entwickelt man etwa, wenn wir ein Hindernis überwinden wollen und Trauer entstehe, wenn Menschen etwas Wichtiges verloren geht. Das kann auch ein Kontrollverlust sein, wie etwa in der Corona-Pandemie. In Bezug auf die Impfkampagne meint Nachreiner, dass mehr Druck gegenteilig sein könnte und zu noch mehr Abwehr führt, sie plädiert für mehr Aufklärung.

Wenn die Impfpflicht tatsächlich umgesetzt wird, will Andrea auf die Barrikaden gehen, um diesen „Eingriff in ihren Körper“ zu unterbinden. Andrea hat Panik vor dem Impfstoff, auch wenn dies, wie sie sagt, vorrangig emotional und nicht rational ist. Generell sei sie für das Impfen. Ihre ablehnende Haltung gegen die Corona-Impfung war dennoch schnell gebildet. In ihrem nahen Umfeld stößt sie damit auf wenig Widerstand. Die meisten in dem 386-Seelen-Dorf, eingebettet zwischen Seeufer und Berghang, sind ungeimpft, sagt sie.

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Andrea zählt zu den rund elf Prozent der Ungeimpften über 65 Jahren. In Österreich sind derzeit etwa 1,4 Millionen Menschen ab 14 nicht gegen das Coronavirus geimpft. Vor allem Jüngere machen einen großen Teil davon aus, 54,8 Prozent der 14- bis 34-Jährigen sind ungeimpft. Das Alter, ein objektives Risiko, ist einer Studie der Uni Wien zufolge für viele kein Grund, um sich impfen zu lassen, besonders dann nicht, wenn sie bereits zu Beginn der Impfkampagne der Impfung kritisch oder gar ablehnend gegenüber standen.

Kontrollverlust als Nährboden 

Der Alltag in der Gemeinde hat sich in der Corona-Pandemie kaum verändert. Richtig still wurde es nur vor zwei Jahren, als das Coronavirus ausbrach. „Es war so ruhig und menschenleer, niemand war auf der Straße - so wie damals, als Franz Klammer gewonnen hat“, erinnert sich Andrea. Mittlerweile ist der Ort belebter, es wird viel über Corona gesprochen. Manche Nachbarn überlegen sogar auszuwandern, andere lassen Verschwörungstheorien hochköcheln, etwa über polnische Oligarchen und Blackouts. Vieles davon kommt auch Andrea verdächtig vor, aber in einen Topf mit „Schwurblern“ geworfen werden will sie nicht.

Krisen, wie die Corona-Pandemie, können für viele Menschen einen Kontroll­verlust bedeuten. Eine Verschwörungs­erzählung kann für Struktur sorgen, sind sich Sozialpsychologen sicher. Ein Feindbild, auf das Ängste projiziert werden können, nimmt der Situation die Bedrohlichkeit. Generell neigen eher Menschen zu Verschwörungstheorien, die das Gefühl haben, wenig Kontrolle über ihr Leben zu haben. Verschwörungstheorien würden dieses Empfinden kompensieren und eine gewisse Kontrolle zurückgeben.

Macht der Betroffenheit 

Wie Andrea, ist auch Lana aufgebracht. „Ich will kein Gift im Blut”, tobt sie. Impfungen waren für die Anfang 30er-Jährige aus Moskau immer ein Graus. Auch für Reisen ins Ausland machte sie keine Ausnahme. Und wäre es keine Pflicht gewesen, hätte sie auch keine Kinderimpfungen gewollt. Aber ihrer Mutter waren die Hände gebunden. Ohne Kinderimpfungen hätte Lana nicht in den Kindergarten können. In und auf Lanas Körper darf nur Natur. Weder Shampoo noch Duschgel stehen in der Dusche, ihre Haare wäscht sie mit Wasser, jedes Fach ihres Kühlschranks ist mit Obst und Gemüse befüllt. Täglich läuft sie durch den nahegelegenen Park und achtet auf ausreichend Schlaf, verlässt jede Feier noch vor Mitternacht, sogar an Silvester.

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Dass sie das Coronavirus krank machen könnte, sieht sie nicht als Gefahr. Hinter Lanas Zorn verbirgt sich aber auch viel Unsicherheit. An ihrer Einstellung ist durchaus zu rütteln. Was sie umstimmen könnte: „Vielleicht, wenn jemand aus meinem Freundkreis, der jung und gesund ist, an Corona erkrankt und stirbt“, meint sie „aber ich kenne niemanden, der Probleme mit oder nach Corona hatte“.

Mit diesem Zugang ist Lana nicht allein. Die Zahl der Covid-19 infizierten im Umfeld aber auch die eigene körperliche Gesundheit spielen eine Rolle in der Impfbereitschaft, zeigte kürzlich eine Studie des Max Planck Instituts. Wenig später hält sie mir ein Video unter die Nase, auf dem der Gesundheitsminister, sich die Maske vom Gesicht nimmt und in den Raum hustet. Der Fauxpas wird in den sozialen Medien zerlegt und die nicht eingehaltenen Hygiene-Maßnahme Mücksteins als Sinnbild des österreichischen Pandemie-Managements gehandelt. „Auf solche Idioten soll ich hören?“, fragt Lana.

Willensbildung vs Wahrheitsfindung

Dass Politik und Wissenschaft im öffentlichen Diskurs zu einem Einheitsbrei verrührt werden, ist nicht neu, doch verdirbt es beide Zutaten. Damit Wissenschaft ihrem Wahrheitsanspruch gerecht wird, muss sie wie es im Grundgesetz so schön heißt „frei sein“ und darf nicht zur Mehrheitsmeinung missbraucht werden. Politik hingegen hat den Auftrag der Willensbildung, bestenfalls wäre das eine andauernde Abstimmung öffentlicher Anliegen. Beide haben unterschiedliche Ziele und Aufgaben. Es muss jedenfalls differenziert werden zwischen der Gefährlichkeit einer Viruserkrankung und politischen Maßnahmen.

Vertrauen in Staaten und staatliche Institutionen ist ein wichtiger Faktor für die Impfbereitschaft. Werden politische Versprechen, wie etwa von einer Impflotterie oder keiner Impflicht gebrochen und kommen vielleicht noch Berichte über Korruptionsskandale hinzu, sinkt die Bereitschaft, der Bürger Maßnahmen mitzutragen. Ein anderes Bild zeigt sich etwa in Ländern mit großem Vertrauen in die Regierung, das mit einer hohen Impfbereitschaft einhergeht, wie etwa Dänemark (81 Prozent zweifach geimpft) oder Portugal (90 Prozent Impfquote).

Es sind nur wenige Eindrücke, doch zeichnen sie alle ein ähnliches Bild: von Isolation, Sorgen und Spaltung. Umso wichtiger ist es miteinander, unabhängig davon, ob man dieselbe Meinung zur Impfdebatte hat, in Dialog zu bleiben, der bestenfalls konstruktiv ist, gespickt mit Offenheit, Respekt und Verständnis.

*Namen sind der Redaktion bekannt

Bilder: Ruslan AleksoEdward JennerMaria Orlova, cottonbro / pexels & Claudia Tschabuschnig

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„Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Studie nicht publiziert wird, ist zwei bis dreimal größer, wenn ihre Ergebnisse dem jeweiligen Sponsor missfallen“, meint der britische Mediziner und Autor Ben Goldacre.
„Jedes Problem, das sich einem stellt, hat mit mir zu tun und fordert auf etwas zu lernen“, meint Peter.