Hohe Spitalsbelastung: Ärztekammer für Finanzierungsumstellung

Wiens Spitäler sind durch viele Patienten überlastet, warnt die Wiener Ärztekammer. Hauptursache sei das Finanzierungssystem. Hier brauche es Änderungen, so die Kammer.

ct
Wolfgang Weismüller, Vizepräsident und Obmann der Kurie angestellte Ärzte der Ärztekammer
Wolfgang Weismüller, Vizepräsident und Obmann der Kurie angestellte Ärzte der Ärztekammer sieht Politik gefordert.
Stefan Seelig
Vizepräsident der ÄKW, Wolfgang Weismüller: „Wenn die Politik weiter so wirtschaftet wie bisher, wird es sich finanziell einfach nicht mehr ausgehen".

Ärztemangel, Einsparungen und überbordende Bürokratie stellen die Gesundheitsversorgung für eine gleichzeitig stark wachsende und immer älter werdende Bevölkerung vor große Herausforderungen. Insbesondere die Spitäler sind durch viele Patienten überlastet, warnt die Wiener Ärztekammer bei einer Pressekonferenz am Dienstag in Wien. Ärzte hätten kaum noch Zeit, sich ausreichend um jeden Patienten zu kümmern. 

„Wenn die Politik weiter so wirtschaftet wie bisher, wird es sich finanziell einfach nicht mehr ausgehen. Wien spürt das bereits am allermeisten“, betont Wolfgang Weismüller, Vizepräsident und Obmann der Kurie angestellte Ärzte der Ärztekammer für Wien, im Vorfeld des Wiener Spitalsärztekongresses, der unter dem Titel „Spannungsfeld Ethik vs. Ökonomie - Spitzenmedizin um jeden Preis?“ erstmals veranstaltet wird. „Die Bevölkerung wird kränker und älter, das Geld für die Spitäler wird immer weniger“, so Weismüllers Sorge.

Studie bescheinigt komplexes Gesundheitssystem

Ähnlich sieht das auch der Wiener Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer: „Die Spitalslandschaft in Österreich ist aufgrund des Finanzierungsmodells sehr inhomogen. Diese Finanzierung bevorzugt nämlich jene in der Peripherie und stellt dafür die Spitäler im urbanen Raum – wie etwa auch in Wien – vor große Herausforderungen.“

„Trotz verschiedenster Bemühungen um eine verstärkte Koordinierung und Angleichung der Interessen müssen wir feststellen, dass das österreichische Gesundheitssystem aufgrund seiner vielschichtigen Verwaltungsstruktur und dualen Finanzierung komplex und fragmentiert ist“, zitiert Pichlbauer aus der Studie der London School of Economics (LSE).

Ausgaben nur knapp über EU-Durchschnitt

Besonders die Aufteilung der Finanzierung von intra- und extramuralen Leistungen zwischen den Bundesländern und Sozialversicherungen würde die Betreuungskontinuität beeinträchtigen und zu Kostenverschiebungen führen. Deshalb muss laut Pichlbauer davon ausgegangen werden, dass zurzeit die Gesundheitsergebnisse „innerhalb der Bevölkerung schlechter und die Gesamtkosten höher ausfallen“, als dies in einem „koordinierten System“ der Fall wäre.

Dennoch liegen laut seinen Untersuchungen die Gesundheitsausgaben in Österreich nur unwesentlich über dem EU-Durchschnitt. Pichlbauers Erklärung: „In Anbetracht der Häufigkeit von Spitalseinweisungen können die relativ niedrigen Ausgaben nur mit einer strikten und effizienten Preiskontrolle erklärt werden.“

Gesundheitsökonom: Bismarck-Beveridge-Mix „nicht sinnvoll“

„Österreich hat zusammen mit Griechenland ein gleichsam einzigartiges Finanzierungsmodell“, sagt Pichlbauer. Die Mischung aus den traditionellen Bismarck- und Beveridge-Modellen, die in Österreich eingeführt wurde, sei aber eben „wenig bis gar nicht sinnvoll“. Damit sei eine Finanzierung aus zwei Händen festgelegt, die Akteure zu einer Abstimmung zwinge, die aber realpolitisch nicht möglich sei, „womit in der Folge Schnittstellen entstehen, die hohe Kosten erzeugen, ohne dass damit mehr Gesundheit entsteht“.

In Österreich werden die Spitäler über ein sogenanntes „Leistungsorientiertes Krankenanstaltenfinanzierungspunktesystem“ – kurz LKF-Punktesystem –, das ein „mehr oder weniger“ bundeseinheitliches Allokationsmodell darstellt, finanziert. Das bedeutet, dass jeder Arzt, er eine Leistung auf einer Spitalsabteilung erbringt, dafür LKF-Punkte „weiterverrechnet“, ergänzt Weismüller. „Die Defizite aus dem Betrieb betragen dadurch dennoch mindestens 40 Prozent“, rechnet Pichlbauer und stellt fest: „Die willkürliche und globale – also eine ohne Zuordnung zu Leistungen von Abteilungen – resultierende Defizitdeckung beträgt in Österreich fünf bis sechs Milliarden Euro jährlich.“

Derzeitiges System fördere stationäre Strukturen

Das derzeitige Finanzierungsmodell ist laut Pichlbauer dadurch „weder transparent noch setzt es sinnvolle Anreize, ambulant vor stationär zu versorgen“. Für Spitäler sei es lukrativ, Patienten stationär, eventuell tagesklinisch, jedenfalls aber intramural zu versorgen und so LKF-Punkte zu sammeln. „Das geht aber auch nur dort, wo man genügend Kapazitäten frei hat“, so Weismüller.

„In Wien haben wir mehr Patienten, als wir aufnehmen können, und pro Arzt mehr Patienten, als vom System her ‚vorhergesehen‘ – dennoch sollen wir genauso ‚produktiv‘ wie in der Peripherie sein.“ Für Weismüller kann sich das so nicht rechnen.

Belastung für die urbanen Räume

Die Bevorzugung der stationären Behandlung hat für Ballungsräume wie Wien Konsequenzen. Die Wienerinnen und Wiener liegen verhältnismäßig selten im Spital. Wenn sie aber stationär aufgenommen werden, sind sie überdurchschnittlich „zeitaufwendig".

Laut dem Gesundheitsökonomen Ernest Pichlbauer ist die ärztliche Jahresarbeitszeit in Wien „eher niedrig" – die Leerläufe sind jedoch österreichweit die geringsten. Deshalb ist die Arbeitsverdichtung in Wien am stärksten ausgeprägt, da die Fälle kompliziert und Ruhephasen für Ärztinnen und Ärzte sehr kurz sind. „Die Zahl der Patienten pro Arzt ist einfach zu hoch", ergänzt dazu Ärztekammer-Vizepräsident Wolfgang Weismüller.

Inhomogener „Patienten-Mix“

Laut Pichlbauers Untersuchungen werden Patienten mit der gleichen Krankheit, die in einem Bundesland beziehungsweise in einer Region ambulant (intra- oder extramural) versorgt werden, anderswo stationär aufgenommen. Es sei „nicht offensichtlich, wie ‚zeitaufwendig‘ so ein Spitalspatient ist und wie viel Spezialisierung er in Anspruch nimmt".

Damit sei der „Patienten-Mix" selbst in einer LKF-Gruppe, trotz eines einheitlichen Finanzierungsmodells, inhomogen – von Region zu Region, und von Bundesland zu Bundesland. Pichlbauer: „Grosso modo müssten Ambulanzen über den stationären Bereich finanziert werden." Ein nicht unerheblicher Teil der „willkürlichen" Defizitdeckung dient laut Pichlbauer der Aufrechterhaltung von versorgungswissenschaftlich nicht notwendigen Strukturen (Standort-, Abteilung-, Ambulanzgarantien) im ländlichen Bereich. „Das belastet Wien und die urbanen Räume", so Pichlbauer.

„Stück- statt Gesundheitsproduktivität"

Pichlbauers Fazit ist, dass „das derzeitige Finanzierungsmodell die stationäre Versorgung fördert und die Bettendichte bestimmt". Die Krankenhaushäufigkeit werde durch die jeweilige Spitals-/Abteilungsgröße und Konkurrenz um LKF-Punkte getriggert. Solange diese „willkürliche" Finanzierung bestehe, sei selbst dann nicht mit Änderungen zu rechnen, wenn Spitalsambulanzen eigene Finanzierungstangenten erhielten.

Laut Pichlbauer gelten „betriebswirtschaftliche und nicht gesundheitsökonomische Bewertungsmaßstäbe – es zählt die Stück- und nicht die Gesundheitsproduktivität". Die Zahl der Patienten sei demnach wichtig, und nicht die erzeugte Gesundheit im Einzugsgebiet. Pichlbauer: „Das führt zu massiver Arbeitsverdichtung für das ärztliche Spitalspersonal."

Weismüller: Finanzierung „aus einer Hand“

Für Weismüller ist auf Basis der Untersuchungen Pichlbauers die derzeitige Finanzierung des Gesundheitssystems „schlichtweg falsch". Er fordert, dass „zumindest in einem ersten Schritt die ambulanten Behandlungen aus einer Hand finanziert werden". Die Unterdeckung der Ambulanzen ist in Wien bei etwa 80 Prozent – „das darf nicht so weitergehen", urteilt Weismüller. „Ich fordere daher die Politik auf, hier rasch gegenzusteuern, die Fakten und sinnvolle Lösungsansätze liegen auf dem Tisch und sind nicht von der Hand zu weisen."

„Wir haben bereits vor zehn Jahren davor gewarnt, dass es enger wird", resümiert Weismüller. „Seitdem gehören Gangbetten und geschlossene Stationen gleichsam zum Spitalsalltag in Wien. Wenn man neuerlich zehn Jahre nicht auf uns hört, dann wird es noch viel schlimmer werden. Wir müssen jetzt gegensteuern – die Ärztinnen und Ärzte sind dazu bereit."

TAGS:
Wiener Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer
Laut dem Wiener Gesundheitsökonomen Ernest Pichlbauer hat Österreich eine „inhomogene Spitalslandschaft“.
Stefan Seelig
Gesundheitsökonom Pichlbauer: Österreichs Finanzierungsmodell „wenig bis gar nicht sinnvoll“.