MED4HOPE
MED4HOPE

Straßenmedizin: „Man hat oft nur eine Chance“

„Danke, danke, danke! Küss die Hand“, jauchzt die alte Dame im dicken Daunenmantel. Sie lächelt und stellt ihre drei Zähne zur Schau. Monika Stark drückt ihr einen Streifen Tabletten in die Hand. Wieder klopft es. Stark schiebt die schwere Wagentür zur Seite. „Momenterl, sie können gleich reinkommen“, ruft sie.

Claudia Tschabuschnig

Prall gefüllte Taschen mit Habseligkeiten der Patient:innen stapeln sich vor dem Louisebus der Caritas Wien. Seit 20 Jahren arbeitet Stark dort als Ärztin für Menschen ohne Obdach. Was es für die Medizin auf der Straße braucht, wird nun in einer Fortbildung von MED4HOPE und der Ärztekammer Wien gelehrt.

Keine Arbeit, kein Wohnsitz, Scheidung oder verpasste Fristen. Es gibt viele Gründe, warum Menschen nicht versichert sind. Rund 100.000 Menschen sind es in Österreich. Sie können sich im Krankheitsfall die Arztkosten nicht leisten. Der Louisebus ist eines der Projekte, die Menschen, die krank sind und es aus verschiedenen Gründen nicht schaffen in eine Ordination oder Ambulanz zu gehen, gratis versorgen. Zu dem Bus kommen meist Erwachsene zwischen 20 und 60 Jahren, kaum Kinder und auch häufig ältere Frauen, berichtet Stark. Altersarmut unter Frauen sei ein großes Problem.

„Meine Dokumente wurden gestohlen“, raunzt die alte Dame, die mittlerweile auf der schmalen Bank im Bus Platz genommen hat. Anna heißt sie. So steht es auf einem Fetzen, den sie bei sich trägt. Selber lesen könne sie diesen nicht. Ihre Brille sei zu schmutzig und kaputt. Noch zurückhaltend fragt Anna nach Calcium, sie hätte Osteoporose. Aber sie brauche auch etwas für den Magen, fällt ihr dann ein. Die Namen der Medikamente hat sie vergessen. Und ein Antidepressivum, das brauche sie leider auch, „aber das darf man nicht so laut sagen“, kichert sie. Und ich brauche noch etwas anderes, sagt sie leicht beschämt. „Bei Harnverlust haben wir etwas besonders Schönes“, sagt Stark. „Dafür müssen sie nochmal turnen.“ Die alte Dame steht auf, Stark öffnet den Bankdeckel und holt Binden und Tabletten hervor. „Ich bin gerettet“, sagt die alte Dame und steigt aus dem Bus. „Auf Wiedersehen“, ruft Stark ihr nach. „Bitte nicht“, entgegnet Anna. „Ja, bitte gesund bleiben“, sagt die Ärztin.

Die Allgemeinmedizinerin Monika Stark kümmert sich im Bus gemeinsam mit freiwilligen Helfern um Menschen, die oft dringend eine medizinische Betreuung benötigen. Foto: Stefan Seelig
Monika Stark bei der Arbeit. Foto: Stefan Seelig
 

Kühler Wind strömt in den beheizten Bus. Der junge Mann, der nun auf der Bank sitzt kann seine Augen kaum öffnen. Seine Kleidung ist zerschlissen. Er streckt seine Hände und Füße der Ärztin entgegen. Sie sind blutig und blauschwarz vor Kälte. Schnell sind Salbe und Pflaster parat. Aber die Hände will sich der Mitdreißiger selber waschen. Er brauche Suchtmittel, murmelt er, und Epilepsie-Medikamente. „Medikamentöse Suchttherapie machen wir nicht“, sagt Stark mit bestimmtem, freundlichen Ton. Er solle sich bei der Suchthilfe Wien melden. Sie notiert ihm den Namen eines Psychiaters, der in der Guft arbeitet. Er murmelt vor sich hin. Dann nickt er, nimmt die Epilepsie-Medikamente, bedankt sich und geht. Wenig später klopft er wieder an die Wagentür. Gummihandschuhe brauche er noch. Michaela, die freiwillige Helferin, mit der Stark den Bus betreibt, reicht sie ihm.

Substituierte Patient:innen, sowie Patient:innen mit Tranquilizer-Abusus werden in der Straßenmedizin nicht versorgt. Zuständig ist etwa das Tageszentrum Jedmayer der Suchthilfe. Auch gäbe es keine Substitutionstherapie. Daher komme es häufig zu Diskussionen in der Behandlung. Bedroht habe sich Stark dabei noch nie gefühlt. Manchmal werde geschimpft. Das Schlimmste, das ihr in 40.000 Behandlungen passiert sei, war, „dass einer den Zettel, auf den ich einen Namen geschrieben hab, zerknüllt und mir vor die Füße geworfen hat“. Schlimmer ist es für sie aber, wenn jemand nicht Hilfe annehmen oder reden will. „Das ist mir aber noch nicht passiert. Grundsätzlich kommen Menschen, die wollen, dass man ihnen hilft.“

„Es gibt viel Menschlichkeit in der Medizin“

Bei der Hilfe stößt man schon mal an seine Grenzen. Etwa wenn es an Medikamenten fehle. Stark erinnert sich an einen Mann mit Psychose. „Der ist obdachlos, weil er diese Zustände hat“. Er bräuchte eine regelmäßige Depotspritze, die allerdings zu teuer und schwer zu bekommen ist. Alternativ könnte er Tabletten nehmen, die Einnahme ist aber durch seine psychische Erkrankung erschwert. „Das tut richtig weh, wenn man weiß es, gibt eine Spritze, damit er nicht so oft kommen muss, aber man bekommt sie nicht.“ Fordernd sei es auch, wenn jemand eine Operation braucht. Die Ärztin erinnert sich an einen Baustellenarbeiter mit kaputter Hüfte, der keine medizinischen Ansprüche hatte und auch weder lesen noch schreiben konnte. Zum Glück aber gebe es „viel Menschlichkeit in der Medizin“, sagt sie. Wenn man die Hintergründe schildert hätten die Kollegen im Krankenhaus ein Herz und sagen oft „schicken sie uns den“. Insgesamt gebe es aber viel mehr Situationen, bei denen man nicht an Grenzen stößt und richtig gut und unmittelbar helfen kann. Das mache die Arbeit so erfüllend.

Heute steht der Louisebus vor dem „s'Häferl“, einem Gasthaus der Diakonie Wien, in der auch Ehrenamtliche gemeinsam mit einer Köchin und Wirtin arbeiten und an Menschen in Not warme Mahlzeiten ausgibt. Es herrscht reges Treiben. Beim Eingang hat ein Besucher einen Fetzen über die Rampe gelegt, „damit niemand ausrutscht“, sagt er. Stark isst ihre erste Mahlzeit, es ist mittlerweile vier Uhr Nachmittag. Die Klingel läutet, Essen wird ausgegeben, Kellen mit Suppe mit Leberknödeln und Tee werden ausgeschenkt. Es ist wohlig warm, die Tische sind gefüllt mit hungrigen Gästen, die Fenster weihnachtlich dekoriert.

Die Allgemeinmedizinerin Monika Stark kümmert sich im Bus gemeinsam mit freiwilligen Helfern um Menschen, die oft dringend eine medizinische Betreuung benötigen.
Im Louisebus bekommen Menschen ohne Krankenversicherung medizinische Hilfe. Fotos: Stefan Seelig


Der Louisebus gibt vielen Patient:innen Halt. Fünf Mal die Woche steht er an fixen Stationen etwa vor der Gruft, Notquartieren und Tageszentren. Die Klienten wissen er ist dort, holen sich Kaffee und Butterbrote und kommen zur Blutdruckkontrolle mit ihrem Blutdruckpass. „Sie sind so compliant“, schmunzelt Stark.

Seit über 20 Jahren arbeitet Stark neben ihrer Hausarztpraxis im Louisebus. Seit 2002 ist sie Hausärztin, seit 2008 praktiziert sie mit Krankenkasse. Aus ihrer Sicht habe sie dieselben Patient:innen, auf der Straße wie in der Praxis. „Nur, dass die einen eben eine Wohnung haben und die anderen nicht. Mit beiden baut man eine Beziehung auf“, sagt sie.

„Straßenmedizin hat andere Regeln“

In der Straßenmedizin herrschen aber andere Regeln. Dabei gehe es um spezielle Krankheitsbilder und Menschen, die eine andere Vorgehensweise brauchen. Käme ein Patient mit Knieschmerzen und Bluthochdruck in ihre Ordination, würde Stark zunächst Blutdruck messen, eventuell ein EKG machen. Käme ein obdachloser Patient mit denselben Symptomen in den Louisebus würde die Ärztin zunächst versuchen, Vertrauen für die Behandlung zu gewinnen.

„Viele sind misstrauisch, aber irgendwie gibt es doch in jedem Menschen ein Fünkchen Hoffnung, dass ihnen jemand hilft, egal wie schlimm sie behandelt wurden“, so Stark. Dem Patienten mit Knieschmerzen würde sie zunächst Schmerztabletten geben, die er gleich schlucken kann. Dann würde sie sich Handschuhe anziehen und mit einer Salbe sein Knie einschmieren und ihn erzählen lassen. „Manche genießen das richtig. Dann hat man den Fuß in der Tür und kann sich um weitere medizinische Probleme kümmern“, so Stark.

Das bleibt nicht ohne Konsequenz. Viele Patient:innen wollen für die Behandlung etwas zurückgeben. „Manchmal bekomme ich eine Blume aus dem Stadtpark oder Schokolade“, so die Ärztin. Andere Patient:innen würden Gedichte schreiben, wilde Sachen rezitieren oder die Welle machen, wenn Stark aus dem Urlaub zurückkommt. Wenn dann einer sagt, er habe endlich keine Schmerzen mehr, ist das „intensiv in alle Richtungen“, so die Ärztin. Erfolgserlebnisse gehören zur Straßenmedizin dazu. „Unmittelbar zu helfen und Dankbarkeit zu spüren, ist in Wahrheit das, was Arzt sein ursprünglich ausmacht. Angehende Mediziner:innen studieren ja, weil sie helfen wollen und nicht, um am Computer zu sitzen und Überweisungen zu schreiben“, so Stark.

folgt
Auch Medikamente werden ausgegeben. Foto: Stefan Seelig


In der Straßenmedizin brauche es Kreativität. „Man muss improvisieren können“, sagt Stark. Man habe nicht für jede Wunde den Verband oder die Wundauflage, die man sich wünscht. Da müsse man sich etwas einfallen lassen. Der Louisebus ist prall gefüllt mit beschrifteten Boxen und Schubladen voller Medikamente und medizinischer Instrumente. Darunter etwa Pflaster, Wundsalben, Desinfektionsmittel, Skalpelle, Neuroleptika, einen Defibrillator, Notfallequipment und Medikation gegen Parasitenbefall. Besonders beliebt seien Schmerztabletten. Aber auch Magenschutz sei hoch im Kurs. Das Leben auf der Straße, schlechtes und unregelmäßiges Essen, Schlafen auf kaltem Asphalt erzeuge spezifische Symptome, wie Rücken- und Magenschmerzen. Manche Patient:innen würden auch nach einer Reihe von Medikamenten fragen. Das hat auch kulturelle Gründe. Patient:innnen aus Osteuropa wollen häufig Antibiotika „zur Sicherheit“. „Das bekommen sie von uns nur, wenn sie es wirklich brauchen, da muss man sich freundlich abgrenzen“.

Doch auch der Vorrat an Medikamenten kommt manchmal an seine Grenzen. Das Budget ist beschränkt, darüber hinaus ist man auf Spenden angewiesen. Noch vor wenigen Stunden hatte Stark einen jungen Patienten, der nach einer Herztransplantation zu ihr in den Louisebus kam. Damit sein neues Herz nicht abgestoßen wird, musste er drei verschiedene Immunsuppressiva nehmen. Er hatte diese Medikamente nicht. Stark konnte sie nach Nachfrage im AKH und bei der Medikamentenhelfe Rotes Kreuz organisieren. Aber der Ablauf ist ein anderer als in der Ordination, wo man Daten in ELGA eingibt und einfach auf „Drucken“ klickt. 

x
Die Allgemeinmedizinerin Monika Stark kümmert sich im Bus gemeinsam mit freiwilligen Helfern um Menschen, die oft dringend eine medizinische Betreuung benötigen. Foto: Stefan Seelig


Und es gebe auch Situationen, die an die Nieren gehen. Vor mehreren Jahren ist eine ihrer obdachlosen Patient:innen erfroren. Sie wurde mit ihrem Partner aus einer Notschlafstelle geworfen, weil er dort gewalttältig wurde. Sie hätte bleiben können, entschied sich aber mit ihm mitzugehen. Gemeinsam übernachteten sie in einem abgestellten Eisenbahnwagon beim Westbahnhof, wo sie erfroren ist. Um solche Erlebnisse gut verarbeiten zu können, empfiehlt Stark die Balint-Gruppen, die auch Teil des MED4HOPE-Programms sind.

Das Interesse an der Straßenmedizin ist groß, es gebe viele engagierte Ärzt:innen, aber viele würden rasch ausbrennen und dann ganz aufhören. In der Straßenmedizin komme man viel schneller an seine Grenzen. Das ist nicht nur für Ärzt:innen stressig, auch den Patient:innen tue man damit keinen Gefallen. Um sich besser auf diese Situationen vorbereiten zu können, wurde die Fortbildung von MED4HOPE ins Leben gerufen. Von den Teilnehmern wünscht sich Stark, dass sie sich dauerhaft engagieren, etwa einmal in der Woche oder im Monat.

„Viele haben schwer belastende Geschichten zu erzählen, das macht demütig“

Derzeit kommen vor allem Ärzt:innen aus dem Krankenhaus und besonders der Notfallmedizin, zu der Schulung. Sie haben unmittelbaren Kontakt mit Obdachlosen, die von der Rettung gebracht werden und hätten viele offene Fragen. Etwa was nach der Behandlung mit den Patient:innen geschieht, wohin man sie schicken kann und welche Zuweisungsmöglichkeiten es gibt.

„In jedem medizinischen Bereich kommt man mit den Randgruppen zusammen. Im Regelsystem ist man komplett überfordert und häufig bleibt einem nur die Person hinauszubringen, weil sie stört. Diese Persönlichkeitsstruktur ist es auch, die diese Menschen auf die Straße bringt“, sagt Karl Jurik, der Ausbildungsleiter bei MED4HOPE.

Obwohl der Louisebus und andere Institutionen niederschwellig sind, brauchen die Patient:innen viel Kraft und einen großen Leidensdruck, um diese aufzusuchen, betont Jurik. „Man geht von einer bestimmten Patientenadhärenz aus, die oft nicht möglich ist, weil die Traumatisierten viel mitgemacht haben, sodass man oft nur eine Chance hat“. „Viele haben schwer belastende Geschichten zu erzählen, das macht demütig“, sagt Jurik.

Jirek
Dr. Karl Jurik, der Ausbildungsleiter von MED4HOPE, engagiert sich seit vielen Jahren in der medizinischen Versorgung von Randgruppen.


Jurik arbeitet seit sieben Jahren in verschiedensten Institutionen für Menschen, die – wie er sagt – nicht ins System hineinfinden. 2015 wollte sich der Arzt, der 37 Jahre praktizierte, ein Jahr Auszeit gönnen. Als er aber 2015 seine Praxis zurückgab, brach die Flüchtlingskrise aus. Am Hauptbahnhof wurde in wenigen Tagen ein Notfalllazarett aus dem Boden gestampft und händeringend nach freiwilligen Mediziner:innen gesucht. Zu dem Zeitpunkt gab es viele mit maroden Füßen, weil manche den Weg von Budapest nach Wien zu Fuß zurücklegten. Wenige Tage später kehrte der Gros der Ehrenamtlichen in ihre Arbeit zurück, Jurik blieb und kam so in die Medizin am Rand.

„Grenzbereiche bringen auch uns an die Grenzbereiche“

Bei Straßenmedizin gehe es viel ums Zuhören, weiß der Mediziner. Zeit, an der es im medizinischen System mangelt. „Oft werden Befunde gemacht, bevor zugehört wird. Dabei ergeben sich bis zu 80 bzw. 90 Prozent der richtigen Diagnosen alleine aus den Fragen des Patient:innen, 10 Prozent durch die Untersuchung“, ist Jurik überzeugt. „Wie weit kann ich mich professionell und empathisch zeigen, wie kann ich seine Schuhe anziehen und gemeinsam einen gangbaren Weg finden“, sind Fragen, die sich der Arzt beim Umgang mit seinen Patient:innen stellt. Etwas, das in der medizinischen Praxis hingegen viel zu kurz kommt. Statt sich mit dem Menschlichen zu befassen, geht es in der medizinischen Praxis häufig um Vorschriften und Dokumentation.

Von Armut und Obdachlosigkeit betroffene Menschen sind im Straßenbild von Wien immer wieder anzutreffen. Tobias Steinmaurer / picturedesk.com
Langzeitobdachlose sind heute in den meisten Großstädten präsent.​​​​​​ Credit: Tobias Steinmaurer / picturedesk.com


Eine andere Besonderheit der Straßenmedizin ist, dass Mediziner:innen nie alleine sind. So wie die Notfallmedizin nicht ohne Sanitäter möglich wäre, geht die Straßenmedizin nicht ohne Sozialarbeiter. „Eine Kompetenzunschärfe bei Menschen mit Schwierigkeiten ist sehr heikel“, so Jurik. Die Nachbetreuung der Klienten, etwa im Park, findet immer mit Sozialarbeitern statt. Sie sind es auch die neuen Klienten „finden“, die sich in Parks oder Naturgebieten verstecken. Wichtig sei es auch in dieser Sparte Erfahrungen zu teilen, damit sich Grundlagen herauskristallisieren, wie man in diesem Milieu arbeiten kann.

Die Ausbildung von MED4HOPE (Medical Aid for Homeless People) versucht in möglichst kurzer Zeit, ein möglichst breites Spektrum abzudecken. Vermittelt werde etwa die Wohnungssituation oder mit welchen Schwierigkeiten und Persönlichkeiten man rechnen muss. Auch geht es um Kommunikation, Fremdsprachen und darum Familie und Freunde einzubinden. Videodolmetsch hätte sich hierfür bewährt. Allgemeinmedizinisch geht es darum, mit welchen Medikamenten man arbeiten kann und soll. Das für Jurik wichtigste Modul ist die Reflexion in der Balint-Gruppenarbeit. Dabei geht es um Fragen wie „wie gehe ich mit meiner Person in Situationen, die mich an die Grenze bringen, warum bringen sie mich an die Grenzen? Grenzbereiche bringen auch uns an die Grenzbereiche“, so Jurik. Durch die Schulung haben viele den Einstieg ins Engagement gefunden, andere wiederum die Erkenntnis gewonnen, es sei ihnen doch zu steil. „Mein großes Geschenk ist, dass ich Kollegen habe, die ähnliche Wertstrukturen von Medizin und Menschsein haben. Etwas, das sich auch nicht trennen lässt“, lächelt Jurik.

medinlive ist bestrebt, eine Vielzahl von Leserbriefen zu veröffentlichen. Wir würden gerne wissen, was Sie über diesen oder einen anderen unserer Artikel denken. Welche Erfahrungen haben Sie mit Opioiden gemacht? Schreiben Sie uns auf: redaktion@medinlive.at.
Folgen Sie unseren Beiträgen auch auf FacebookTwitter und linkedin.

Diese Fortbildung umfasst fünf Module und wird sowohl in Form von Einzelterminen als auch geblockt angeboten. Pro Modul werden Ärzt:innen 3 medizinische DFP-Punkte angerechnet. Die laufenden Kurse des Sommersemesters sind zwar bereits ausgebucht, jedoch starten Anfang Oktober 2023 bereits die nächsten Einheiten.


Dr. Monika Stark ist Initiatorin und Gründerin von MED4HOPE. Stark ist praktische Ärztin mit einer Ordination in Brunn am Gebirge. Sie ist außerdem seit über 20 Jahren im Louisebus der Caritas in Wien tätig und versorgt dort regelmäßig obdachlose Menschen.

Stark wünscht sich zudem, dass Straßenmedizin mehr ins medizinische Curriculum genommen wird, sinnvoll wäre dies etwa über Hospitation. Medizinstudenten könnten zum Beispiel Streetworker bei der Nachbetreuung, etwa in Parks, begleiten. Hier fehle es häufig an medizinischem Personal. Auch eine spezielle Bauchtasche für Obdachlose zählt zu Starks Wünschen. Diese könnte verhindern, dass wichtige Dokumente verlorengehen. Über Entwicklungen in der Straßenmedizin bildet sich die Medizinerin auf internationalen Konferenzen, etwa in den USA und Deutschland, weiter.

Dr. Karl Jurik, der Ausbildungsleiter von MED4HOPE, engagiert sich seit vielen Jahren in der medizinischen Versorgung von Randgruppen, indem er einerseits Organisationen seine Zeit und ärztliche Expertise zur Verfügung stellt, andererseits ärztliche Fortbildungen zum Thema niederschwellige Medizin in Zusammenarbeit mit der Ärztekammer Wien anbietet.

Juriks Selbstverständnis als praktischer Arzt ist es, den Menschen allumfassend zu betrachten und für alles zuständig zu sein. Jurik ist auch politisch engagiert, hat sich etwa für mehr Wertbewußtsein bei bei Medikamenten ausgesprochen, etwa über einen kostenanteiligen Betrag von 20 Prozent des tatsächlichen Preises, etwa zwischen Minimum € 2,-  und Maximum € 10.-. Zudem wünscht sich eine Änderung des Auswahlverfahrens im Medizinstudium, etwa, dass ein absolviertes soziales Jahr mitberücksichtigt wird.

Die Corona-Pandemie hat auch die Straßenmedizin an ihre Grenzen gebracht, die Durchimpfungsrate war gering. Die Dokumentation der Impfungen ist nach wie vor ein Problem. Zudem konnte nicht genug auf Schutz und Masken geachtet werden. Der Ukraine-Krieg hingegen hat sich kaum auf die Zahl der Obdachlosen ausgewirkt. Ein Großteil der vom Krieg Geflohenen konnte vom Sozialsystem aufgefangen werden. Auch die Palliativversorgung von Obdachlosen ist prekär. Derzeit gebe es – in Kooperation mit einem kirchlichen Spital in Graz – nur eine Hand voll Hospizbetten. Statistiken zufolge würden Obdachlosen bis zu 30 Jahre früher sterben als die Normalbevölkerung.

Es gebe auch immer neue Ansätze, um die Arbeit zu verbessern. Im neunerhaus und in der Caritas etwa wird auf Peer Arbeit gesetzt, also mit Menschen als Helfer zu arbeiten, die es aus der Obdachlosigkeit geschafft haben, berichtete Jurik. Das neunerhaus versorgt obdach- und wohnungslose Menschen kostenlos und professionell allgemein- sowie zahnmedizinisch. Sozialarbeiter helfen dabei, den Versicherungsschutz (wieder) zu erlangen. Eine weitere Einrichtung für unversicherte Menschen ist Ambermed. Dort bekommen unversicherte Menschen, die sich dauerhaft in Österreich aufhalten, eine medizinische kostenlose Versorgung, auch fachärztliche, durch ein ehrenamtliches Team aus Ärzt:innen, Therapeuten und Dolmetschern.

MED4HOPE: ZAM-Curriculum MED4HOPE zum Zertifikat „Niederschwellige Medizin“ (SS 2023)

„Irgendwie gibt es doch in jedem Menschen ein Fünkchen Hoffnung, dass ihnen jemand hilft, egal wie schlimm sie behandelt wurden“.
Von Armut und Obdachlosigkeit betroffene Menschen sind im Straßenbild von Wien immer wieder anzutreffen.
Von Armut und Obdachlosigkeit betroffene Menschen sind im Straßenbild von Wien immer wieder anzutreffen.
pexels
Von Armut und Obdachlosigkeit betroffene Menschen sind im Straßenbild von Wien immer wieder anzutreffen.
Obdachlosigkeit ist eine Lebenslage, in der Menschen über keinen festen Wohnsitz verfügen und im öffentlichen Raum, im Freien oder in Notunterkünften übernachten.
picturedesk
„Unmittelbar zu helfen und Dankbarkeit zu spüren ist in Wahrheit das, was Arzt sein ursprünglich ausmacht“.
„Angehende Mediziner:innen studieren ja, weil sie helfen wollen und nicht, um am Computer zu sitzen und Überweisungen zu schreiben“.
 
© medinlive | 18.04.2024 | Link: https://www.medinlive.at/gesellschaft/strassenmedizin-man-hat-oft-nur-eine-chance