Medizingeschichte
Medizingeschichte

Wie die Wissenschaft die Medizin das Laufen lehrte

Aderlaß, Kuren, auf die etwa ein gewisser Herr Beethoven schwor, oder die althergebrachte Vier-Säfte-Lehre: Derlei Zugänge prägten anno 1800 die medizinische Welt. Doch langsam und stetig verlässt die Medizin ausgetretene Pfade und gerade in Wien ist dabei Bahnbrechendes passiert.

Eva Kaiserseder

„Im 19. Jahrhundert entstanden die Grundlagen für den bis heute anhaltenden weltweiten Aufstieg der naturwissenschaftlichen Medizin. Wien und die ‘Zweite Wiener Medizinische Schule’ spielten dabei eine zentrale Rolle” erklärt Herwig Czech, Professor für Medizingeschichte an der MedUni Wien.

Herwig Czech
Herwig Czech ist seit vergangenem Jahr Professor für Geschichte der Medizin an der Wiener MedUni. Sein besonderes Forschungsinteresse gilt u.a. dem Nationalsozialismus.

Der „Beginn für diese Zweite Wiener Medizinische Schule lässt sich nicht eindeutig festlegen“, meint Czech im medinlive-Gespräch, „wie so oft in der Geschichte handelt es sich um eine Kumulation von Entwicklungen, die in ihrem Zusammenspiel ab etwa den 1830er Jahren etwas epochal Neues ergeben.” Was aber eindeutiger zu bestimmen ist, ist deren Ende: 1938, als die jüdische Ärzteschaft massenhaft vertrieben und entrechtet wurde. „Damit wurde enorm viel medizinisches Wissen durch die Nationalsozialisten zerstört und vertrieben“ so Czech.

Weg vom Hinschauen hin zum Hineinschauen

Was ist in dieser Zeit zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und der nationalsozialistischen Diktatur eigentlich so Innovatives passiert? Vorweg: Die Idee vom bloßen Hineinschauen in den Menschen hin zur Ursachensuche einer Krankheit und damit weg vom Spekulieren ist keine ganz neue. Leichensektionen gab es schon im Mittelalter. Die allererste Leichenöffnung zu Lehr- und Demonstrationszwecken wurde sogar in Wien durchgeführt und zwar vom italienischen Professor Galeazzo di Santa Sophia. 1404 wurde sie am früheren Heiligen Geist Spital durchgeführt, das am heutigen Standort der Technischen Universität stand.

Czech verweist in diesem Zusammenhang auch auf die so genannte „Erste Wiener Medizinische Schule“, die eng mit Maria Theresias niederländischem Leibarzt Gerard Van Swieten verbunden ist. Der im holländischen Leiden ausgebildete und praktizierende Arzt kam auf Betreiben der Kaiserin nach Wien. Er galt als einer der wesentlichen Medizinreformer dieser Zeit. „Auch zu dieser Zeit gab es bereits systematische Untersuchungen von Autopsiebefunden, fast zeitgleich mit dem Arzt und Anatom Morgagni, der ja als Gründer der modernen Pathologie gilt. Zusammenfassend ließe sich vielleicht sagen, „in der Ersten Wiener Medizinischen Schule wurden Wissenschaftler und Erkenntnisse ‘importiert’, in der ‘Zweiten Medizinischen Schule’ erfolgten eigenständige wissenschaftliche Leistungen“, so Czech.

Der Anatom und Arzt Andreas Vesalius hatte schon im 16. Jahrhundert höchst realistische Abbildungen der menschlichen Anatomie angefertigt. Zwei Ausgaben seines Hauptwerkes De humani corporis fabrica libri septem („Sieben Bücher vom Bau des menschlichen Körpers“) befinden sich übrigens in der Bibliothek des Wiener Josephinums. Vesalius hat dafür den Leichnam eines verurteilten Verbrechers seziert, dessen Skelett sich heute in Basel, im Anatomischen Museum, befindet. Es gilt als das älteste anatomische Präparat der Welt.

Vesal
Die reich bebilderte „De Humani corporis fabrica Libri septem", oftmals als Fabrica" abgekürzt, ist das Hauptwerk des flämischen Arztes Vesal und zählt zu den bibliophilen Schätzen im Wiener Josephinum. (c) Claudia Tschabuschnig

Die Palette an spezifischen Therapien, also von konkreten Möglichkeiten, Patientinnen und Patienten zu helfen, war in der vorwissenschaftlichen Phase der Medizin sehr beschränkt. Unter wohlhabenderen Patienten beliebt waren etwa Kuren und Bädermedizin. Diverse Tinkturen ergänzten die Behandlungen, wenige davon allerdings mit nachgewiesenen Wirkungen. Auch Methoden wie Aderlaß oder Schwitzkuren waren üblich, um den Körper zu reinigen oder wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Es gab im Wesentlichen zwei Möglichkeiten für Kranke, sich behandeln zu lassen: Das Krankenhaus oder die private Behandlung, wobei hier der Arzt auf eigene Kosten ans eigene Krankenbett gerufen wurde und somit als bezahlter Dienstleister auftrat. Ganz anders lagen die Verhältnisse im Krankenhaus, das sich aus dem Armenasyl entwickelte.

Infobox Museum für Medizingeschichte

Das Josephinum fungiert seit dem frühen 20. Jahrhundert als Institut und Museum für Medizingeschichte und ist heute Teil der Wiener MedUni. Gegründet wurde es aber eigentlich als Ausbildungsstätte für Chirurgen. Die Bioethikerin und Medizinerin Christiane Druml, Direktorin des Josephinums, skizziert die Geschichte wie folgt: „1785 wurde das Josephinum gegründet und gebaut. Dieses wurde als chirurgische Akademie ins Leben gerufen, weil Joseph mit der Ausbildung seiner Chirurgen, also der Militärchirurgen, nicht zufrieden war. Er wollte ursprünglich eine bessere Ausbildung in der Universität anregen, die 1365 gegründet wurde und wo die Medizin auch eine der Gründungsfakultäten war. Diese wollte aber das geplante neue Curriculum, in dem auch die Chirurgen bzw. damals noch die Feldscher und Bader enthalten waren, nicht umsetzen. Joseph hat dann unter Beratung seines Leibarztes Giovanni Brambilla ein völlig neues Ausbildungssystem für die Chirurgen initiiert. Dabei wurde das Garnisonsspital gegründet. Heute würde man dazu „teaching hospital“ sagen. Dort waren die Patienten. Gleichzeitig wurden die Chirurgen theoretisch ausgebildet und waren damit erstmals Akademiker.“

Aber erst der Anatom und Pathologe Carl von Rokitansky „legte die Ursachen der Krankheiten offen und ging damit weit über die bislang geübte reine Feststellung der Krankheit hinaus“, und das rund 300 Jahre nach Vesals Meisterstück. Das konstatiert der Begleittext zur Ausstellung „Unter die Haut“, die 2014 im Josephinum gezeigt wurde.

Was das in der Praxis bedeutet, ist nicht weniger als die Geburt eines neuen Konzeptes in der Medizin: Der Ablauf eines Krankheitsprozesses als Abfolge von Symptomen und Stadien der Krankheit. Und dazu brauchte es ein Verständnis von Ursache und Wirkung den menschlichen Körper betreffend. Als die treibende Kraft für dessen Erforschung gilt eben Rokitansky. Als weiterer Motor dieser Entwicklung gelten der Internist Josef Skoda und der Dermatologe Ferdinand Hebra; auch Emil Zuckerkandl, Schüler von Rokitansky und Skoda, stand in der Tradition dieser Pioniere. Abseits dieser großen Veränderungen im Verhältnis von Körper, Diagnosefindung und Therapie gab es zudem eine ganz andere bahnbrechende Neuerung, Stichwort Infektionen.

„Lehre von den Säften“ wird obsolet

„Will man ein Bild bemühen, was die große Änderung dieser Zeit war, würde ich sagen, es gab einerseits die antike Humoralpathologie. Die Lehre von den Säften im Körper, die sich im Gleichgewicht befinden müssen und das Wissen darum, was die damalige Medizin lange definiert hat. Diese Anschauung hatte auch im 19. Jahrhundert noch ihre Anhänger. Aber dann entwickelte sich konsequent die Vorstellung, dass Krankheiten durch spezifische Erreger ausgelöst werden und Menschen einander anstecken können. Die Suche nach diesen Erregern führte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Aufschwung der modernen Mikrobiologie“, so Czech.

Männer wie Robert Koch in Berlin, der als erster die Rolle von Bakterien als Krankheitserreger erkannte und dafür 1905 auch den Nobelpreis in Physiologie und Medizin erhielt oder der Chemiker Louis Pasteur, der eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Impfungen spielte, waren hier Vorreiter. Noch immer war zwar auch die Miasmentheorie, also die Lehre von verunreinigter, krankmachender Luft, wichtig, sie beeinflusste auch den Bau von Krankenhäusern in Bezug auf Hygiene und Belüftung. Trotzdem setzte sich aber das Wissen um die Bakterien und deren Krankheitspotential langsam durch und löste die Miasmentheorie ab.

Robert Koch und seine zweite Frau Hedwig.
Robert Koch und seine zweite Frau Hedwig, zwei Jahre vor dessen Tod. Der Nobelpreisträger von 1905 starb 1910 im Alter von 67 Jahren. (c) George Grantham Bain collection_ Library of Congress.

„Ende des 19. Jahrhunderts gab es dann eine Phase, die man mit dem Begriff des therapeutischen Nihilismus belegt hat.“ so Czech. Dabei handelt es sich um eine auf die Spitze getriebene Pathologie, die das Wissen und die Ursache um die Krankheiten als ersten und wichtigsten Grund der ärztlichen Profession sieht, noch vor einer möglichen Therapie und Heilung. Diese Phase wurde durch zunehmende Fortschritte vor allem in der Pharmakologie überwunden, beispielsweise Salvarsan (1910) und Neosalvarsan (1912) für die Syphilisbehandlung.

Was ebenfalls einen enormen Aufschwung erlebte, war das weite Feld der Chirurgie, sie erlebte um die Wende zum 19. Jahrhundert eine Blütezeit. Theodor Billroth etwa, der die Bauchchirurgie entscheiden vorangetrieben hat und 1881 eine erste Magenteilresektion vorgenommen hat. „Billroths Klassiker ‘Die allgemeine chirurgische Pathologie und Chirurgie’ leitet aus der zugrundeliegenden Pathophysiologie beispielsweise der Wundheilung, Regeneration, Entzündung und Blutung Hinweise für die Chirurgie ab“ so der Medizinhistoriker Roy Porter. Auch Lorenz Böhler, der als Begründer der modernen Unfallchirurgie gilt, war ein (heimischer) Pionier in seiner Fachdisziplin. 

Einweihung_Josephinum
Die Einweihung des Josephinums als medizinisch-chirurgische Akademie als Ausbildungsstätte für den Ärztebedarf der Armee. (c) Grafik von Hieronymus Löschenkohl

Zuvor erfuhr dieses oft geschmähte Teilgebiet der Medizin bereits Ende des 18. Jahrhunderts eine große Aufwertung: Am Josephinum ließ Joseph II. Wundärzte für die Armee ausbilden und stellte ihnen damit erstmals eine eigene „Schule“ zur Verfügung, die sie Ärzten gleichrangig machte. 2022 wird das Haus, eines der bedeutendsten Beispiel klassizistischer Architektur in Wien, nach einer umfangreichen Renovierung wieder seine Rolle bei der Bewahrung und Vermittlung der Wiener Medizingeschichte voll ausfüllen können.

 

Josephinum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Carl von Rokitansky
Carl von Rokitansky war als Anatom derjenige, der die Bedeutung der Pathologie als Fundament für neue Diagnose und Therapiemöglichkeiten sozusagen in neue Sphären hob.
Fotografie Fritz Lackhardt
Robert Koch in seinem Labor anno 1885.
Robert Koch in seinem Laboratorium.
Kruif, Paul de. Mikrobenjäger. Orell Füssli, Zürich, 1927
50 Schilling Schein
Rückseite der alten 50 Schilling Note mit der Anischt des Josephinums.
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Louis Pasteur
Louis Pasteur war eigentlich Chemiker, für die Geschichte der Medizin war er vor allem durch seinen Beitrag auf dem Gebiet der Impfentwicklung ein wichtiger Impulsgeber.
Public_domain_Foto_av_Paul_Nadar_Crisco
 
© medinlive | 19.04.2024 | Link: https://www.medinlive.at/wissenschaft/wie-die-wissenschaft-die-medizin-das-laufen-lehrte