„Um die Weihnachtszeit hatten wir in Österreich massive Lieferengpässe. Mit 19. Mai waren 591 Arzneimittel nicht oder nur teilweise lieferbar. Die Zahl blieb ziemlich konstant bzw. wird nur langsam geringer. Das Hauptproblem liegt in der Produktion“, sagte die Expertin. Analysen hätten folgendes Bild ergeben: 61 Prozent der Lieferengpässe sind auf Probleme bei der Herstellung von Medikamenten zurückzuführen. In 18 Prozent der Fälle steckt ein plötzlich erhöhter Bedarf, zum Beispiel bei Grippewellen etc., dahinter. Elf Prozent machen Schwierigkeiten in den Lieferketten aus, nur bei vier Prozent sind Qualitätsmängel die Ursache. Maßnahmen der Arzneimittelbehörden betreffen sechs Prozent der Fälle.
Die Abhängigkeit der Industriestaaten von Herstellern in Asien ist enorm. Wirthumer-Hoche: „Mindestens 80 Prozent der Wirkstoffproduktion wurden nach Indien und China ausgelagert. Wir müssen aber danach trachten, dass Arzneimittel wieder überall rasch verfügbar sind. Länder wie Rumänien oder Bulgarien hatten beispielsweise im Winter überhaupt keine Antibiotika mehr.“ Längerfristig müsse gesichert sein, dass vorhandene Arzneimittelproduktionen in Europa blieben bzw. zumindest teilweise wieder zurückgeholt würden.
Die EU-Kommission hat erst vor kurzem Vorschläge für eine neue Verordnung und eine neue Richtlinie rund um Arzneimittel vorgelegt. Erstmals wird darin definiert, was ein Lieferengpass überhaupt ist, ebenso wann ein „kritischer Lieferengpass“ vorliegt. Da 80 Prozent Versorgungsmängel national auftreten, sollten in Zukunft in der EU die entsprechenden nationalen Register, in welche die Arzneimittelkonzerne Probleme zeitgerecht einmelden müssen, kompatibel werden.
„In Richtung Sicherheitsvorräte gehen“
Kurzfristig am besten wirksam wäre jedenfalls der verpflichtende Aufbau von nationalen Lagern für wichtige Medikamente. „Man muss in Richtung solcher Sicherheitsvorräte gehen. Die Frage ist, wer das zahlt“, erklärte die Expertin. In der jüngeren Vergangenheit bei den Lieferengpässen mit Abstand am besten davongekommen ist in Europa Finnland. Dort existiert schon längst eine entsprechende Lagerhaltung: So muss dort beispielsweise die durchschnittliche Verbrauchsmenge an Antibiotika für zehn Monate vorrätig sein. Bei den Medikamenten gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Antidiabetika, Kortison etc. ist eine Lagerhaltung für sechs Monate vorgeschrieben.
Auch in der Herstellung von Wirkstoffen selbst wird es Innovationen geben müssen. „Die Produktionstechnologie ist zum Teil 70, 80 Jahre alt, bei den Biotechnologika vielleicht 40 Jahre. Wir haben eine extrem komplexe Lieferkette. Sie ist auch langsam. Die Herstellung eines Arzneimittels dauert sechs bis zwölf Monate“, sagte der Verfahrenstechniker Johannes Khinast (TU Graz). So könnten beispielsweise kleine, automatisierte Produktionsanlagen zu einer deutlichen Beschleunigung der Prozesse in der Arzneimittelproduktion führen. Damit ließe sich auch schnell auf drohende Engpässe reagieren.