In der Fachsprache heißen die Knochenreste „Seligmann-Fragmente“. Namensgeber ist der Wiener Arzt, Medizinhistoriker und Anthropologe Franz Romeo Seligmann (1808-1892), der bei der Exhumierung des Musikgenies 1863 dabei war und Schädelteile für Studienzwecke an sich nahm. Denn immerhin habe sich Beethoven schon in jungen Jahren, als sich sein körperlicher Zustand bereits verschlechterte und sich seine Ertaubung abzeichnete, gewünscht, dass nach seinem Tod erforscht werde, woran er denn eigentlich erkrankt sei, erklärte MedUni-Rektor Markus Müller in einem Pressegespräch.
Die Knochenstücke - die beiden größeren stammen von der Hinterhauptregion bzw. von der rechten Stirnregion - blieben über Jahrzehnte lang im Besitz der Familie, die später vor dem Naziterror aus Wien flüchten musste. Zuletzt verwahrte sie Paul Kaufmann, der in den USA lebt und die Knochenreste 1990 aus dem Nachlass seiner Mutter in Frankreich, eine Großnichte Seligmanns, übernommen hatte. Sie hätten sich in einem Bankschließfach befunden - gebettet in eine Metallbox mit der Gravur „Beethoven“. Der Erbe war es auch, der die Kostbarkeiten - unscheinbar verpackt in Jausenboxen aus Plastik - im Rahmen des Medientermins offiziell der Universität übergab. Sie finden nun Eingang in die medizinhistorische Sammlung des Josephinums.
Besuchern bleibt ein Blick auf die Komponisten-Relikte vorerst indes verwehrt. Denn in den nächsten Monaten sollen Studien mit den Objekten vorgenommen werden. Denn einige Wissenschafter in den USA zweifeln an, dass die Schädelüberreste tatsächlich von Beethoven stammen. Gerichtsmediziner Christian Reiter von der MedUni Wien kann den Einwänden wiederum wenig abgewinnen. Er hat im Vorjahr eine wissenschaftliche Arbeit zu diesem „ganz kostbaren Material“ veröffentlicht. „Es spricht nichts dagegen, dass die Knochen echt sind“, wiederholte er heute sein Fazit noch einmal.
Er führt gleich zwei stichhaltige Indizien ins Treffen. Einerseits passen die erhaltenen Fragmente bezüglich Form und Sägenfurchen genau zu jenem Gipsabdruck des Schädels, der ebenfalls 1863 angefertigt wurde und sich im Narrenturm des Naturhistorischen Museums Wien befinde, erklärte der Experte. Andererseits sei Anfang der 2000er-Jahre bei molekularbiologischen Untersuchungen in Haarlocken eine erhöhte Bleikonzentration festgestellt worden. Diese finde sich auch in den Knochen, wobei die Krux dabei sei, dass die Ergebnisse der Schädelstücke nie publiziert worden seien, führte Reiter aus. Bei Bedarf werde man die Messung in Wien allerdings wiederholen. Vielleicht schafft aber bis dahin eine andere Studie endgültige Klarheit. Denn erst vor wenigen Tagen wurden am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie den "Seligmann-Fragmenten“ DNA-Proben entnommen, wie Kaufmann berichtete. Sie sollen mit dem DNA-Material aus Beethoven-Haarlocken abgeglichen werden. "Ende des Jahres werden wir dann zu 100 Prozent Bescheid wissen“, meinte Reiter. Dann könnte auch das Rätsel gelöst werden, warum Beethoven taub geworden und woran er letztendlich gestorben ist.
Publikation von Christian Reiter zur Echtheit der Knochenfragmente: http://dx.doi.org/10.1007/s10354-022-00985-4