„Diskriminierung ist Alltag“
Über 190.000 chronisch kranke Kinder gibt es an Österreichs Schulen. Um ihre Rechte zu stärken, brauche es unterstützende Strukturen und die Bewusstseinsbildung von Lehrern, so das Resümee eines Expertenpanels in Wien.
Über 190.000 chronisch kranke Kinder gibt es an Österreichs Schulen. Um ihre Rechte zu stärken, brauche es unterstützende Strukturen und die Bewusstseinsbildung von Lehrern, so das Resümee eines Expertenpanels in Wien.
An Österreichs Schulen haben knapp 16,8 Prozent der Kinder eine chronische Erkrankung. Sie leiden etwa an Diabetes oder Asthma, Epilepsie, Bluthochdruck, Rheuma, Neurodermitis, Migräne oder Autismus. Im schulischen Alltag sind sie stark benachteiligt. Nach einer Bürgerinitiative 2014 und politischer Enquete 2015 wurde 2017 mit der Ausweitung der Amtshaftung ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Rechte dieser Kinder gemacht. Doch es gibt nach wie vor viel Handlungsbedarf, so der Tenor des Round-Table-Gesprächs der Plattform „chronisch_konkret“ am Dienstagabend in Wien.
„Wir müssen uns alle verantwortlich fühlen“, meint etwa die Bundesministerin für Kinder, Jugend und Frauen, Juliane Bogner-Strauß. Sie ortet viel Unwissenheit in der Lehrerschaft. So fehle es etwa an einer „absence policy“. Auch in Kindergärten und an Universitäten gäbe es Aufklärungsbedarf, was Fehlstunden betrifft, so Bogner-Strauß. Die Gesundheit der Kinder soll als Gesamtkonzept erdacht werden, plädiert die Familienministerin. Auch adipöse Kinder, etwa rund 13 Prozent der Schüler, müssten darin berücksichtigt werden.
„Kinder müssen uneingeschränkt im schulischen Prozess teilhaben können. Sie in diesem Ausmaß an den Rand der Gesellschaft zu drängen, ist inakzeptabel“, befeuerte Volksanwalt Peter Fichtenbauer die Diskussion. Dabei trage die gesamte schulische Gesellschaft eine Gesamtverantwortung, so Fichtenbauer, zuständig für Kindergärten und Schulen. Fichtenbauer sieht vor allem die Lehrer gefordert. So soll medizinisches Wissen in der Lehrerausbildung vertieft werden. Ebenso brauche es medizinisches Fachpersonal, ähnlich dem Prinzip der „School Nurse“ (Pflegepersonen im Rahmen der Schulgesundheitspflege, Anm.), das für den Ernstfall zur Verfügung steht, so der Volksanwalt.
Auch Gesundheitswissenschafterin Lilly Damm plädiert für Unterstützungsstrukturen in den Schulen. Dabei soll das Personal je nach individuellem Fall aufgestellt werden. Dabei gehe es nicht um den „Kampf der Berufsgruppen, wer zuständig ist, sondern darum, zu schauen: Was braucht das Kind?“, so Damm. Sie plädiert zudem für eine flächendeckende Erste-Hilfe-Ausbildung an den Schulen, um im Ernstfall Sicherheit zu geben. Wichtig sei es vor allem, bereits in der Lehrerausbildung das Bewusstsein zu schaffen, dass es chronische Krankheiten überhaupt gibt, fordert die Wissenschafterin. In jeder Schule gebe es statistisch gesehen ein Kind mit Epilepsie, so Damm.
Als Herausforderung sieht Damm auch die Kommunikation zwischen Eltern und Lehrer. Manche Eltern hätten mit ihrem Kind „eine Odyssee“ an Absagen von Schulen erlebt. Sie könnten sich den Lehrern schwer anvertrauen und bräuchten hier das Gefühl, aufgenommen zu werden. Zudem seien viele Frauen beruflich benachteiligt, weil sie „ihr chronisch krankes Kind irgendwie durch das Schulsystem bringen“.
Damm sieht die Rechte chronisch kranker Kinder auf vielerlei Ebenen deutlich eingeschränkt. Neben dem Recht auf Bildung und dem Recht auf medizinische Betreuung in der Schule hätten vielen Kindern kein Recht auf Teilhabe: „Das Recht auf Teilhabe wird so gut wie täglich an österreichischen Schulen gebrochen“, so Damm.
Auch Paul Kimberger, Chef der Bundes-Pflichtschullehrer-Gewerkschaft, betont die Wichtigkeit der Teilhabe: „Lehrer können die Situation dieser Kinder erheblich verbessern, wenn sie diese Kinder zu 100 Prozent integrieren bei all dem, was Schule ausmacht“, so Kimberger. Aber: Es gebe kein medizinisches Fachpersonal, das Unterstützungspersonal fehlt ebenfalls, „würden wir uns an dem OECD-Schnitt halten, bräuchten wir 14.000 dieser Fachleute in ganz Österreich, würden wir uns an der Spitze, Skandinavien, orientieren, bräuchten wir 24.000.“ All dies müsse derzeit von Lehrern übernommen werden, so Kimberger. Für jeden Schulstandort sollte es eigene Konzepte geben. Zudem brauche es eine Lobby für Eltern, die „bei schulpolitischen Entscheidungen mit am Tisch sitzen“.
Chronisch kranke Kinder sind in der Schule täglich mit Schikanen konfrontiert, berichteten Betroffene im Publikum. „Es gibt Fälle, in denen Lehrer sagen: ‚Deine Krankheit ist Gottes Strafe‘ oder die erklären: ‚Du bist nicht krank in meinen Augen, ich gewähre dir deine Rechte nicht‘“, schilderte ein Vereinssprecher. Diskriminierende Beispiele, die Alltag sind, so die Resonanz des Publikums. Auch sie sehen großes Aufklärungspotenzial im Lehrbereich. Lehrer würden Bedürfnisse nicht ernst nehmen, die Turnunterrichtsbefreiung werde verweigert, lange Fehlzeiten nicht anerkannt. Die Betroffenen fordern daher eine klare gesetzliche Grundlage, die auch Konsequenzen hat, damit chronisch kranke Kinder nicht weiter Bittsteller sind.
Weiterlesen:
SVA setzt sich für Inklusion chronisch kranker Kinder ein
Hintergrund:
Das chronisch kranke Kind im Schulsystem (Volksanwaltschaft, 2015)