Teil 1: Automatisierte Triage

Wie COVID-19 die Digitalisierung vorantreibt

Die Coronavirus-Pandemie hat den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der klinischen Praxis dramatisch beschleunigt. Angesichts medizinischen Personalmangels und überbordender Patientenzahlen wenden sich immer mehr Krankenhäuser, etwa in den USA und Großbritannien, automatisierter Hilfsmitteln zu, vor allem in der Notaufnahme. Doch so bedeutsam diese Instrumente sind, ihre rasche Einführung ist mit Risiken verbunden.

Claudia Tschabuschnig

Die Corona-Pandemie hat Gesundheitssysteme weltweit in die Knie gezwungen. In einer Umfrage der Weltgesundheitsorganisation WHO sprachen ein Großteil (90 Prozent von 105 Ländern) von einer Disruption grundlegender Gesundheitsdienste. Besonders in der Notaufnahme mussten schwierige Entscheidungen bezüglich Triage, Zuweisung und Neuzuweisung medizinischer Ressourcen getroffen werden. Lebensnotwendig dabei: die frühzeitige Identifizierung von Patienten, bei denen die Gefahr einer Dekompensation besteht und die eine mechanische Beatmung benötigen.

Gleichzeitig trieb die Pandemie die Entwicklung von Modellen künstlicher Intelligenz voran - von Testsystemen, über die Diagnose hin zur Medikamentenzulassungen im Zusammenhang mit Covid-19. Selten erhielten diese Anwendungen eine Marktzulassung, ein Zeichen für die Neuwertigkeit dieser Applikation – aber auch für die Intransparenz regulatorischer Prozesse. 

Algorithmus schlug MEWS-System

Doch vor dem Hintergrund der eklatanten Auswirkungen der Coronakrise auf das amerikanische Gesundheitssystem hat die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA in einem ungewöhnlichen Schritt gleich mehrere Notfallzulassungen für KI-Modelle erteilt. Darunter der Algorithmus zum maschinellen Lernen mit dem Namen COViage Hemodynamic Instability and Respiratory Decompensation Prediction System von Dascena. Er prognostiziert die Wahrscheinlichkeit, dass hospitalisierte COVID-19-Patienten intubiert werden müssen.

Im Frühjahr testete Dascena das KI-Tool in einer klinischen Studie mit 197 hospitalisierten COVID-19-Patienten in fünf US-Krankenhäusern. Die Studie in dem Fachblatt „Science“ ergab, dass der Algorithmus effektiver arbeitet als der Modified Early Warning Score (MEWS), ein regelbasiertes System, das von Klinikern häufig zur Beurteilung der Badarfs von COVID-19-Patienten verwendet wird. Der Algorithmus brachte eine genaue Vorhersage des Beatmungsbedarfs innerhalb von 24 Stunden und schaffte es um 16 Prozent mehr Patienten zu identifizieren als MEWS und gleichzeitig falsch-positive Ergebnisse zu minimieren.

Unterdessen haben US-Forscher einige von der amerikanischen US-Behörde FDA zugelassenen Produkte erstmals unter die Lupe genommen, welche die neurologische, pulmonale und muskuloskelettale Trauma-Indikationen zu beurteilen versuchen. In einer Studie im Fachblatt „Emergency Radiology“ (2020) kommen die Autoren zu dem Schluss, dass „die Möglichkeit, Patienten zu triagieren und sich um akute Prozesse wie intrakranielle Blutungen, Pneumothorax und Lungenembolien zu kümmern, dem Gesundheitssystem weitgehend zugute kommen, die Patientenversorgung verbessern und die Kosten senken kann“. 

Radiologie als Treiber

Aufgrund von Engpässen und Verzögerungen bei PCR-Tests sind zudem Röntgenaufnahmen des Brustkorbs zu einer der schnellsten und erschwinglichsten Methoden für Ärztinnen und Ärzten geworden, Patienten zu triagieren. Studien hatten gezeigt, dass schwere Fälle von Covid-19 in radiologischen Aufnahmen deutliche Lungenanomalien in Verbindung mit viraler Pneumonie aufwiesen. Gerade hier öffnete sich die Chance für digitale Anwendungen. Forschungseinrichtungen begannen medizinische Bilder so sammeln. Forscher an Universitätskliniken in den Vereinigten Staaten (darunter: Stanford, Ohio State, Pennsylvania und Emory) sammelten CT-Scans, Röntgenaufnahmen des Brustkorbs und Ultraschallbilder der Lunge, um prädiktive KI-Modelle zur Unterstützung der Behandlung von Covid-19 zu erstellen.

Gerade in der Radiologie wird der Künstlichen Intelligenz viel Potenzial zugesprochen. Vor allem das tiefe Lernen hat Ergebnisse bei der Analyse medizinischer Bilder gezeigt, um Krankheiten wie Brust- und Lungenkrebs oder Glaukom mindestens so genau zu identifizieren wie menschliche Spezialisten. Zu den Chancen und Schwächen künstlicher Systeme in der Radiologe hat der Forscher David Major vom Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung (VRVis) kürzlich mit „medinlive“ gesprochen.

Aber auch in der Behandlung von COVID19-Patienten entwickeln sich erste Einsatzmöglichkeiten der Künstlichen Intelligenz. Ein aktuelles Beispiel ist die Beatmung von COVID19-Patienten. Das Startup Ebenbuild aus München erstellt schon im Vorfeld der Therapie einen digitalen Zwilling der Lunge. Eine KI schlägt dann – basierend auf einer Vielzahl an Daten anderer Patienten – bestimmte Einstellungen für das Beatmungsgerät vor. Diese können an der digitalen Zwillingslunge systematisch getestet werden. Der derzeit gebräuchliche mühsame und schädigende Trial- und Error-Prozess am Patienten entfällt im besten Fall komplett und seine Lunge kann geschont werden.

Chancen stehen noch vielen Schwächen gegenüber

Das Potenzial von Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen ist enorm, allein wenn man die Datenmenge betrachtet. Experten gehen davon aus, dass fast ein Drittel (eund 30 Prozent) der weltweit gespeicherten Daten das Gesundheitswesen betreffen. Jede Sekunde werden neue Daten erstellt. Wenn man medizinische Behauptungen, klinische Versuche, Verschreibungen, akademische Forschung und weiteres einbezieht, ergibt sich ein Ertrag in der Größenordnung von 750 Billiarden Bytes pro Tag. Das Datenvolumen ist exponentiell angestiegen und überfordert die Ärztinnen und Ärzte – von der Chirurgie bis zur Radiologie. Da im Laufe medizinischer Eingriffe die neuesten Informationen weder rechtzeitig noch systematisch aufbereitet zur Verfügung stehen, arbeitet das Gesundheitssystem weniger effizient, als es aufgrund der Informationstechnologien eigentlich möglich wäre, kritisieren Experten.

Doch ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz mit Schwachstellen verbunden. Themen wie das Blackbox-Problem, Diskriminierung und Datenschutz sind gänzlich ungelöst. Forscher können wegen den komplexen Systemen schwer nachvollziehen wie ein KI-Modell zu einem Ergebnis kommt. Sehr oft werden KI-Modelle mit einem kleinen Datensatz trainiert, in dem immer auch ein Bias (eine Verzerrung, Anm.) enthalten ist. Bei der Gesichtserkennung gibt es etwa auch das Problem, dass es zu viele Daten von Gesichtern mit heller Hautfarbe gibt, was zu Verzerrung und Diskriminierung führt. In Österreich ist es zudem durch das Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung noch schwieriger geworden an medizinische Daten zu bekommen. 

Auch ungelöst ist die Anwendung im klinischen Alltag. „Medizinische Universitäten und Ausbildungsprogramme lehren die medizinischen Anwender nicht, wie sie mit der KI umgehen sollen. Man braucht ein gewisses Verständnis dafür, wie die Algorithmen funktionieren und wie die Entscheidungen getroffen werden und man muss darauf vorbereitet sein, kritisch zu sein“, sagt Daniel Cabrera, außerordentlicher Professor für Notfallmedizin an der Mayo-Klinik, welche einen KI-Algorithmus klinisch anwendet. Zudem machen auch digitale Anwednungen Fehler. „Bei einem gewissen Prozentsatz der Patienten werden wir falsche Empfehlungen erhalten“, so Cabrera. Dennoch: Laut einer kürzlich durchgeführten Studie von Johns Hopkins sterben in den Vereinigten Staaten jedes Jahr mehr als 250.000 Menschen aufgrund von medizinischen Fehlern, was die USA zur dritthäufigsten Todesursache nach Herzkrankheiten und Krebs macht.

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