Round Table
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Quo vadis, Komplementärmedizin?

Der Round Table „Potenziale und Grenzen der Komplementärmedizin" beleuchtete am Montag das polarisierende Thema aus unterschiedlichen Blickpunkten. „Aktuell werden die Komplementärmedizin im Allgemeinen und einige ihrer Verfahren im Besonderen sehr kontrovers diskutiert, nicht nur in Österreich. Umso wichtiger sind fundierte Informationen und Diskussionen", so Johannes Steinhart, Vizepräsident der Österreichischen und der Wiener Ärztekammer sowie Obmann der Kurie niedergelassene Ärzte, dazu. Umfragen zufolge wünscht sich ein großer Teil der österreichischen Patientinnen und Patienten eine komplementäre Behandlung. 

red/ek

Es gibt eine große Zahl von Ärztinnen und Ärzten, die in Komplementärmedizin gut ausgebildet sind. „In etwa ein Drittel der rund 37.000 ÖÄK-Diplome betreffen Methoden der Komplementärmedizin und der Traditionellen Medizin", so Steinhart. „Damit ist sichergestellt, dass diese Verfahren von auch schulmedizinisch ausgebildeten Ärztinnen und Ärzten angewendet werden, das ist ein wichtiges Kriterium der Qualitätssicherung. Unser Ziel muss die bestmögliche Versorgung der Patienten sein."

Geladen war unter anderen Reinhard Saller, ehemaliger Direktor des Instituts für Naturheilkunde des Universitätsspitals Zürich, der in seiner keynote meinte, dass „Medizin eine qualifizierte Dienstleistung ist, die sich wissenschaftlicher Methoden bedient. Es geht dabei definitiv nicht um das Umsetzen eines Paradigmas von Wissenschaft, auch nicht eines naturwissenschaftlichen". Die Dienstleistung in der Medizin bestehe darin, Menschen zu helfen. Wird dieser Maßstab angelegt, wären die Auskunftgeber nicht nur die akademischen Experten, sondern auch die Patienten und Bürger, so Saller.

Weiters vertrat er die Meinung, dass man „nicht in die Evidenzfalle tappen und sich die Wirklichkeit mit all ihren Facetten so zurechttrimmen soll, damit sie in das enge Design randomisierter kontrollierter klinischer Studien passe.“ Denn bei solchen Studiendesigns spielten therapeutisch wichtige Aspekte, wie die Persönlichkeit der Ärztin oder des Arztes, die Arzt-Patient-Beziehung oder die Vorstellung der Patienten von ihrer Krankheit und Therapie, keine Rolle, führt Saller aus: „Randomisierte kontrollierte klinische Studien haben ihren Stellenwert und können nützlich sein, sie bilden aber nur einen Ausschnitt der Realität ab. Pragmatic Studies und Real World Studies sind da wesentlich näher an der Realität."

Wenn Medizin eine Dienstleistung für Patienten ist, dann sollten diese auch mitbestimmen, was für eine Medizin sie sich wünschen: „Die medizinische Versorgung sollte gut in eine Gesellschaft und in ein Sozialsystem eingebettet sein und breite Zugänge eröffnen. Das gilt auch für die Komplementärmedizin, von der allgemein bekannt ist, dass sehr viele Menschen die Berücksichtigung solcher Vorgehensweisen bei sich selbst für erforderlich halten."

In der Schweiz mit ihren direktdemokratischen Instrumenten wurden entsprechende Erfahrungen bereits gemacht. Nach einer Reihe von Entwicklungen und Gegenentwicklungen gab es eine erfolgreiche Verfassungsinitiative. Seit 2017 werden die Kosten für Leistungen aus der Anthroposophischen Medizin, der Traditionell Chinesischen Medizin, der Homöopathie, der Phytotherapie und der Akupunktur von den obligatorischen Krankenversicherungen bezahlt, diese Verfahren wurden den Leistungen der Schulmedizin gleichgestellt.

Zu Gast war außerdem Michael Frass, Präsident des Dachverbands für ärztliche Ganzheitsmedizin, der betont, dass „Komplementärmedizin heute ein wichtiger Teil eines modernen Gesundheitssystems ist. Doch wir befinden uns in Österreich in der doch sehr speziellen Situation, dass komplementäre Verfahren zwar in großer Zahl angewendet werden,  einige staatliche Medizinuniversitäten dieses Thema allerdings nicht universitär behandelt wissen wollen", so Michael Frass, Präsident des Dachverbands für ärztliche Ganzheitsmedizin. Unter anderem hat die MedUni Wien vergangenen Herbst die Lehrveranstaltung Homöopathie vom Lehrplan genommen. „Es wäre akademisch redlich, bei Vorbehalten gegen die Komplementärmedizin diese nicht aus dem universitären Diskurs zu verbannen, sondern zu beforschen.", so Frass weiter.

In Deutschland oder der Schweiz würden neue Lehrstühle für Komplementärmedizin eingerichtet, „und dass die Sigmund Freud Universität in Österreich das auch getan hat, sei eine erfreuliche Entwicklung“. Ein wichtiges Ziel sei außerdem die zunehmende Übernahme komplementärer Methoden in den Honorarkatalog der Krankenkassen. Hier sei ein Umdenken erforderlich.

Peter Eichler, UNIQA Österreich und Vorstand für Personenversicherung, betonte, dass „es durch die breite und integrativ angelegte Uniqua-Pproduktpalette naheliegend sei, auch komplementärmedizinische Angebote in das Leistungspaket der UNIQA zu integrieren. Wir sind überzeugt, dass damit wichtige Beiträge zur Gesunderhaltung und zur Unterstützung der herkömmlichen ‚Schulmedizin‘ in vielen Situationen geleistet werden können. Und wir waren und sind überzeugt davon, dass Patienten das Recht haben, bei der Wahl der für sie individuell geeigneten Behandlung mitzuentscheiden."

Inzwischen übernimmt die UNIQA die Kosten für mehr als 40 Diagnose- und Behandlungsmethoden der Komplementärmedizin und der Traditionellen Medizin. Die Nachfrage der Versicherten sei groß, und es stünden sehr gut ausgebildete Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung, um eine gute Qualität zu gewährleisten. Eichler dazu: „Die Erfahrungen, die unsere Kunden seither mit diesen Angeboten gemacht haben, sind sehr positiv und kräftigen uns in unserer ursprünglichen Entscheidung."

Vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz war Susanne Weiss geladen, sie kommt auf das Ärztegesetz zu sprechen. Dieses ist „die Rechtsgrundlage für die ärztliche Berufsausübung, und Ausbildung dient der Qualitätssicherung einer wissenschaftlich fundierten Krankenbehandlung von Menschen. Dem Arzt kommt im Rahmen seiner Berufsausübung freie Methodenwahl nach pflichtgemäßem Ermessen zu. Und zu den ärztlichen Behandlungsmethoden zählen auch komplementärmedizinische Methoden", so die Jursitin Weiss. „Soweit so eine Methode beziehungsweise Behandlung die Anforderungen des Ärztegesetzes erfüllt, ist deren Anwendung jedenfalls als ärztliche Tätigkeit zu qualifizieren und dem ärztlichen Vorbehaltsbereich zuzurechnen."

Die Gesetzesnovelle aus 2018 hatte ursprünglich den Ärztevorbehalt für komplementär- und alternativmedizinische Heilverfahren vorgesehen, das wurde aber nach viel Kritik wieder herausgenommen.

Auch andere Gesundheitsberufe dürfen komplementärmedizinische Methoden anwenden, soweit sie unter deren Tätigkeitsbereich subsumiert werden können. Das gilt etwa für Komplementäre Pflege – Tuina (eine Heilmassagetechnik aus der TCM ) für Gesundheits- und Krankenpfleger oder für die Akupunktmassage für Heilmasseure. Humanenergetiker oder sonstige Personen, die keinem Gesundheitsberuf angehören, dürfen komplementärmedizinische Methoden nicht anwenden beziehungsweise ausüben. Allerdings falle die Anwendung von Methoden, die nicht „ein gewisses Mindestmaß an Rationalität" aufweisen, Stichwort „Aurachirurgie“, gemäß der jüngsten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nicht unter den ärztlichen Tätigkeitsvorbehalt und sei daher auch nicht strafbar.

Hannes Schoberwalter ist Referent für Komplementäre und Traditionelle Medizin der Ärztekammer für Wien. Er sieht die Beschränkung des Einsatzes ganzheitsmedizinischer Verfahren auf Ärztinnen und Ärzte als einen zentralen Aspekt bei der Gewährleistung von Qualität. Unbedingte Voraussetzung sei die universitäre Ausbildung zum Arzt nach den Grundlagen der Schulmedizin. Die komplementärmedizinischen Zusatzausbildungen setzten diese Basis voraus, und sehr viele Mediziner absolvierten entsprechende Diplome der Ärztekammer: So gibt es zum Beispiel mehr als 4.400 Akupunktur-Diplome, rund 2.570 in Manueller Medizin, 636 in Integrativer Kurmedizin, 440 in Neuraltherapie, 342 in orthomolekularer Medizin sowie 339 in Chinesischer Diagnostik und Arzneitherapie.

„Ich stelle außerdem einen zunehmenden, internationalen Trend zur Traditionellen Medizin fest, bei uns sind dies neben bereits genannten Methoden zum Beispiel die Kräuterheilkunde, Kneippbäder, Schröpfen et cetera. Das entspricht dem Strategiepapier ‚Traditional Medicine Strategy 2014-2023‘ der WHO, in dem unter anderem das Ziel definiert wird, die Integration dieser Verfahren in das Gesundheitssystem der Nationen umzusetzen", so Schoberwalter, der auch stellvertretender Leiter des Karl Landsteiner Instituts für Traditionelle Medizin ist. Häufig angewendete Methoden wie Reflextherapien, kurmäßige Anwendungen im Rahmen der Balneologie, Ernährungstherapien, Lebensstilmedizin, Musiktherapie und nicht zuletzt die Mikrobiomforschung hätten ihre Ursprünge in der Traditionellen Medizin: „Das alles lässt sehr interessante Entwicklungen erwarten."

Peter Panhofer, der den Lehrstuhl für Komplementärmedizin an der Sigmund Freud Universität innehat, hat das Ziel, Studierenden evidenzbasiert einen Überblick über die Komplementärmedizinische und die Traditionelle Medizin zu geben. „Zusätzlich zur Lehre betreiben wir Forschung und ermutigen die Studierenden auch, ihre Master Thesis zu komplementärmedizinischen Themen zu verfassen und forcieren damit die integrativmedizinische Wissenschaft, den Schulterschluss zwischen konventioneller und komplementärer Medizin."

Beim Thema Evidenzbasierte Medizin werde von deren ursprünglichem Konzept ausgegangen, dass diese zwar Studien und Literatur berücksichtige, aber auch die klinische Erfahrung der Ärztinnen und Ärzte und die Präferenzen und Werte der Patienten in den Fokus stellen müsse.

Die Literatur zeige, dass in Österreich bis zu 90 Prozent der erkrankten Menschen solche Methoden anwenden. „Analysiert man die wissenschaftliche Literatur, so haben zum Beispiel Akupunktur, traditionelle Kräutertherapien, Yoga, Qigong oder Meditationstechniken den höchsten Evidenzgrad Ia, weil dazu Meta-Analysen von randomisiert kontrollierten Studien vorliegen", so Panhofer. „Ein integrativmedizinischer Ansatz mit einer Erweiterung des konventionellen ‚schulmedizinischen‘ Behandlungsspektrums um komplementärmedizinische Verfahren ist also nicht nur für Patienten sinnvoll, sondern auch evidenzbasiert."

Brigitte Kopp ist Professorin im Ruhestand am Department für Pharmakognosie der Universität Wien. Sie betont, dassArzneipflanzen ein großes Reservoir für neue Arzneimittel bieten. Die traditionelle Phytotherapie ist durch moderne Forschungsmöglichkeiten zu Evidence Based Medicine geworden". Die einsetzende Entwicklung von Chemie und Pharmakologie machte im 19. Jahrhundert zunächst reine Wirkstoffe aus Pflanzen verfügbar, zum Beispiel die Alkaloide Morphin und Codein aus Opium, Atropin aus der Tollkirsche und viele mehr, die auch heute noch aus dem Pflanzenmaterial isoliert werden.

Nach Unterbrechungen setzte in den 1960er-Jahren ein bis heute zunehmendes wissenschaftliches Interesse an pflanzlichen Arzneimitteln ein. Ergebnisse daraus waren qualitativ hochwertige Phytopharmaka, zum Beispiel gegen Depressionen oder Atemwegserkrankungen mit hervorragend dokumentierter Sicherheit und Wirksamkeit. „Durch neue Forschungsansätze und moderne Verfahren gibt es für traditionell verwendete Arzneidrogen neue Erkenntnisse", so Kopp. „Moderne Forschung macht es auch möglich, rasch die pharmakologischen Wirkungen eines Pflanzenauszuges zu bestimmen, den Extrakt in Einzelkomponenten aufzutrennen und die Struktur der an der Wirkung und Wirksamkeit beteiligten Substanzen zu bestimmen." Manche Wirkstoffe folgten daraus, wie Paclitaxel gegen Brustkrebs, Galanthamin gegen die Alzheimer Erkrankung oder Artemisinin gegen Malaria. Zu Letzterem wurde die chinesische Wissenschafterin Prof. Tu Youyou 2015 sogar mit dem Nobelpreis 2015 für Medizin oder Physiologie ausgezeichnet.

 

 

Osteopathie
In etwa ein Drittel der rund 37.000 ÖÄK-Diplome betreffen Methoden der Komplementärmedizin und der Traditionellen Medizin.
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© medinlive | 19.04.2024 | Link: https://www.medinlive.at/index.php/gesundheitspolitik/quo-vadis-komplementaermedizin