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Das waren die medizinischen Durchbrüche 2019

Wiederbelebte Schweinehirne, die erste „personalisierte“ Behandlung einer genetischen Krankheit oder ein Virencocktail als Lebensretter; das vergangene Jahr war durch viele medizinische Durchbrüche gekennzeichnet, eine Rückschau.

Claudia Tschabuschnig

„Ich fühle mich wie der erste Mensch auf dem Mond“, beschreibt der Franzose Thibault seine ersten Schritte im Exoskelett, mit dem er, durch seine Gedanken gesteuert, wieder Arme und Beine bewegen kann. Dafür setzten die Wissenschafter Elektroden auf die Außenmembran direkt unter der Hirnhaut.

Nerven „neu verkabelt“

Bisher wurden Elektroden direkt ins Gehirn implantiert, was ein Infektionsrisiko mit sich brachte. Zunächst zeichneten die Forscher über Gehirn-Scans auf, welche Hirnareale Thibault nutzt, wenn er ans Gehen denkt. Im nächsten Schritt wurden zwei runde Schädelscheiben durch Gehirnsensoren ersetzt – je eine Scheibe und ein Sensor pro Kopfseite. Auf ihrer Unterseite sind die 64 Elektroden angebracht. Anhand von Videospielen lernte Thibault den Umgang mit den Sensoren.

Noch ist der Einsatz des Roboteranzugs nur im Labor möglich, dort ist er an einer Deckenschiene aufgehängt, um sich aufrecht zu halten. Doch Forscher sind überzeugt, dass der Ansatz eines Tages die Lebensqualität von gelähmten Patienten verbessern könnte.

Erste „personalisierte“ Behandlung einer genetischen Krankheit

In den USA haben Wissenschafter innerhalb eines Jahres ein Medikament entwickelt, das als die erste „personalisierte“ Behandlung einer genetischen Krankheit gilt, die nur eine einzige Patientin behandelt: die acht jährige Mila Makovec. Seit ihrem dritten Lebensjahr leidet Mila an einer seltenen neurodegenerativen Erberkrankung, die dazu führte, dass das Mädchen innerhalb weniger Jahre erblindete, künstlich ernährt werden muss und bis zu 30 epileptische Anfälle täglich erleidet.

Mila hat eine besondere Form des Batten-Syndroms, bei der eine bisher einzigartige Mutation für die Störung verantwortlich ist. Den Forschern zufolge verursacht dieser Fehler die Bildung eines Proteins, das „die Müllabfuhr der Zellen“ unterstützen soll. Ist diese Funktion gestört, sammelt sich nicht abgebautes Material in den Zellen an, bis diese zugrunde gehen. Bei Mila geschah dies im Gehirn und in den Augen.

Das maßgeschneiderte Medikament bewirkt, dass sich ein Stück sogenannter RNA über den entscheidenden Fehler in Milas Erbgut legt und den Zellen wieder die Bildung normaler Proteine ermöglicht. Vor Beginn der Therapie hatte Mila bis zu 30 epileptische Anfälle pro Tag. Nun seien es maximal 20. Auch wären die Krämpfe von kürzerer Dauer und es gebe sogar Tage, an denen die Anfälle ausblieben. Die motorischen und kognitiven Fähigkeiten des Mädchens blieben überwiegend stabil. Dass nach ihr benannte Medikament Milasen wurde von einer Stiftung finanziert, die von Milas Mutter gegründet wurde und laut Angaben der „New York Times“ drei Millionen Dollar lukrierte. 

Gen-Silencing: Medikamente kehren Porphyrie um

Eine neue Art von Medikamenten - genannt Gen-Silencing (Gen-Stilllegung, ein Vorgang aus der Genetik, bei dem die Genexpression gemindert wird, Anm.) hat das Potenzial bisher unbehandelbare Krankheiten zu heilen. Die DNA ist im Inneren des Zellkerns eingeschlossen und wird von den Proteinherstellungsfabriken einer Zelle getrennt gehalten. Der Körper nutzt die so genannte Boten-RNA, einen kurzen Strang des genetischen Codes, um die Lücke zu überbrücken und die Anweisungen zu tragen. Medikamente zur Stilllegung der Gene töten den Boten.

Dank dieser Gen-Silencing-Medikamente hat die Patientin Sue Burrell keine starken Schmerzattacken mehr, die durch ihre akute intermittierende Porphyrie ausgelöst wurden. Die Medikamente halfen auch Patienten, die an einer Amyloidose leiden.

Virencocktail als Lebensretter

Ein Cocktail aus Viren rettete Isabelle Carnell Holdaway das Leben. Der Körper des Teenagers wurde von tödlichen und scheinbar unbehandelbaren Bakterien angegriffen. Ihre Überlebenschance lag bei weniger als einem Prozent. Durch die bakterielle Infektion bildeten sich auf Holdaways Haut große, schwarze, eiternde Läsionen. Nachdem ihre Leber zu versagen drohte, landete sie auf der Intensivstation. Daraufhin begannen die Ärzte im Great Ormond Street Hospital eine bis dahin ungetestete „Phagentherapie“. Sie basiert auf Viren, die Bakterien abtöten.

Bisher wurde die Phagen-Therapie durch Antibiotika-Behandlung in den Schatten gestellt. Nun erlebt sie einen Aufschwung, da die Zahl der gegen Antibiotika resistenten Bakterien steigt.

Neuer Ansatz zur Krebsbekämpfung

Die zweijährige Charlotte Stevenson aus Belfast war eine der ersten Patienten, die von einer neuen Wirkstoffklasse von Krebsmedikamenten profitierte; sie wurde mit einem tumordiagnostischen Medikament behandelt. Der Arzneiwirkstoff Larotrectinib ist darauf ausgerichtet, Tumore mit einer genetischen Anomalie, der so genannten NTRK-Genfusion, zu bekämpfen. Sie können sowohl bei Charlottes Sarkom, als auch bei einigen Hirn-, Nieren-, Schilddrüsen- und anderen Krebsarten gefunden werden.

In der Zwischenzeit hat die Krebs-Immuntherapie einen großen Meilenstein erreicht. Inzwischen überlebt mehr als die Hälfte der Patienten einen tödlichen Hautkrebs (Melanom, Anm.), der noch vor einem Jahrzehnt als unbehandelbar galt. Vor zehn Jahren hätte nur einer von 20 Patienten fünf Jahre überlebt, nachdem bei ihm ein Melanom im Spätstadium diagnostiziert wurde. Die meisten Patienten würden innerhalb von Monaten sterben.

Erstes Medikament, um Demenz einzubremsen?

Ein US-Pharmaunternehmen behauptet das erste Medikament zur Verlangsamung der Alzheimer-Krankheit entwickelt zu haben. Das Medikament mit dem Namen Aducanumab ist ein Antikörper, der schädliche Proteine, die sich im Gehirn ablagern, entfernt.

Die Ankündigung im Oktober war eine große Überraschung, da die Firma Biogen das Medikament erst im März dieses Jahres abgeschafft hatte. Das Unternehmen bewies eigenen Angaben zufolge, dass die Patienten, die die höchste Dosis einnahmen mehr Gedächtnisleistung und Sprachfähigkeiten behielten. Sollte das Medikament zugelassen werden, was nicht sicher ist, wäre dies einer der bedeutendsten Momente in der modernen Medizin.

Wiederbelebte Schweinehirne

2019 wurde auch die Grenze zwischen Leben und Tod verwischt. Forscher konnten Schweinehirne nach der Schlachtung der Tiere teilweise wiederbeleben. Die Studie zeigte, dass das Absterben der Gehirnzellen gestoppt werden konnte und dass einige Verbindungen im Gehirn wiederhergestellt werden konnten. Das Kunststück wurde vollbracht, indem künstliches Blut rhythmisch um die enthaupteten Gehirne gepumpt wurde.

Die Erkenntnisse stellen die Idee in Frage, dass das Gehirn innerhalb Minuten nach der Unterbrechung der Blutversorgung in einen irreversiblen Verfall eintritt und könnten zu neuen Behandlungsmethoden für Hirnschäden und -störungen führen. Nichtsdestotrotz gab es keine Signale aus dem Gehirn, die auf ein Bewusstsein hinweisen würden.

Neues Werkzeug zur DNA-Manipulation

Eine neue Art der Genkorrektur könnte 89 Prozent der Fehler in der DNA, die Krankheiten verursachen, korrigieren. Die neue Technologie, die als „Prime-Editing“ bezeichnet wird, macht es möglich, das Erbgut sehr präzise zu verändern. Es existieren etwa 75.000 verschiedene Mutationen, die bei Menschen Krankheiten verursachen können. Die Forscher sind überzeugt, dass Prime-Editing einen Großteil bekannter Mutationen beheben kann.

Im Labor wurde die Technologie bereits angewandt, um gefährliche Mutationen zu korrigieren, die etwa Krankheiten wie Sichelzellenanämie und Tay-Sachs-Krankheit (eine seltene und tödliche Nervenerkrankung, Anm.) verursachen.

Menschen wieder eine Stimme geben

Wissenschafter haben ein Gehirnimplantat entwickelt, das die Gedanken von Menschen lesen und in Sprache umwandeln kann. Dabei lesen Elektroden die elektrische Aktivität im Gehirn ab. Zuerst wird eine Elektrode in das Gehirn implantiert, die die elektrischen Signale auffängt, durch die Lippen, Zunge, Stimmkasten und Kiefer bewegt werden.

Dann wird mit Hilfe leistungsstarker Computer simuliert, welche Geräusche durch die Bewegungen im Mund und Rachen erzeugen würden. Das Ergebnis ist eine künstliche Sprachausgabe aus einem virtuellen Stimmapparat. (Hier können sie die Sprachaufnahme anhören, Anm.) Diese Technologie könnte Menschen, die durch eine Krankheit ihr Sprachfähigkeit verloren haben, helfen.

Futuristisch
Zur Beurteilung, inwieweit die gefundenen Mutationen sich als Zielkoordinaten für eine bereits existierende Präzisionstherapie eignen würden, zog das Team um Dr. Taghizadeh, die sogenannte ESCAT-Klassifikation heran.
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© medinlive | 20.04.2024 | Link: https://www.medinlive.at/index.php/wissenschaft/das-waren-die-medizinischen-durchbrueche-2019