Eine Krankheit gilt in der Europäischen Union als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Personen betroffen sind. Geschätzte fünf Prozent der Bevölkerung weisen eines der 6.000 bis 8.000 Krankheitsbilder auf. Der Weg zu einer korrekten Diagnose dauert hierzulande laut Fachleuten oft mehrere Jahre. „Was derartige Erkrankungen selten macht, sind die verschiedenen, meist genetischen, aber auch auto-immunologischen Ursachen“, sagte Georg Stary, Experte von der Universitätsklinik für Dermatologie der Medizinischen Universität Wien und dem Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD), im Vorfeld des Tages der seltenen Erkrankungen am 28. Februar.
Etwa 50 Prozent der seltenen Erkrankungen entfallen auf Kinder. „Ist die Erkrankung angeboren, wird ein schwerer Verlauf früh sichtbar. Das heißt aber gleichzeitig, dass die andere Hälfte erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wird“, so Daniela Karall vom Department für Kinder- und Jugendheilkunde der Medizinischen Universität Innsbruck und Obfrau des Forums Seltene Krankheiten. Ein massiver Unterschied zu „klassischen“ Erkrankungen ist laut Karall, dass man etwa mit Diabetes zu jedem Praktiker gehen könne und eine Erstberatung bekommen werde. Bei seltenen Erkrankungen dagegen gehe das (noch) nicht. „Es sollte angestrebt werden, dass auch diesbezüglich Betroffene von der Diagnostik bis zur Betreuung wohnortnah versorgt werden. Die Expertise soll reisen, nicht der Patient“, meinte Karall.
Langer und oft mühseliger Weg zur Diagnose
„Dank des medizinischen und akademischen Fortschrittes wissen wir heute, dass sich unter großen Gruppen von Krankheiten häufig viele verschiedene Einzelerkrankungen finden“, verwies Kaan Boztug, Direktor des LBI-RUD, als Beispiel auf Tumorerkrankungen. Der Anteil der seltenen Erkrankungen wachse mit einem immer besseren Verständnis der Komplexität: „Was oberflächlich gleich aussieht, ist noch lange nicht die gleiche Erkrankung.“ Vieles was hierzulande passiert, ist laut dem Experten qualitativ sehr gut. „Es fehlen aber die konkreten Finanztöpfe, um einen gemeinsamen Prozess in Österreich anzuschieben, mit dem man mehr internationale Sichtbarkeit bekommt“, umriss Boztug, der auch als wissenschaftlicher Leiter der St. Anna Kinderkrebsforschung tätig ist, die finanzielle Situation.
Neben dem oft langen und mühseligen Weg zur Diagnose ist bei seltenen Krankheiten auch die Behandlung durchaus schwierig. „Aufgrund der geringen Anzahl an Patient:innen pro Land gibt es für die einzelnen Erkrankungen meist nur ein begrenztes Wissen und auch nur wenige spezialisierte Ärzt:innen“, so Alexander Herzog, Generalsekretär des Verbands der pharmazeutischen Industrie (Pharmig). Dies erschwere auch die Planung und Durchführung klinischer Studien.
Was die Medikamentenentwicklung betrifft, will aufwändige Forschung auch finanziert sein. Durch die geringe(re) Zahl an Patient:innen sind die Preise bei den sogenannten Orphan Drugs teils sehr hoch. Erleichterungen brachte die Implementierung einer Orphan-Verordnung durch die EU im Jahr 2000. Allerdings wurden von der Europäischen Kommission auch Schwachstellen bemängelt, so dass sich die Verordnung derzeit in der Evaluierung befindet und im Frühjahr 2023 eine überarbeitete Version zu erwarten ist. Von 2000 bis 2022 gab es insgesamt knapp 4.200 Einreichungen bei der EU-Arzneimittelbehörde EMA für einen Orphan-Drug-Status, dem in rund 2.750 Fällen stattgegeben wurde. Davon wurden inzwischen 231 Medikamente neu in Europa für seltene Erkrankungen zugelassen.
Künstliche Intelligenz als Hoffnung bei seltenem Hautkrebs
Neben der Verteilung der Gelder stellen auch Verzögerungen in der Verabreichung der Medikamente Hürden dar. „Beispielsweise entscheiden die einzelnen Bundesländer, welches Spital die entsprechende Versorgung übernimmt. Betreffend Erstattungen wäre eine eigene Kommission ratsam, die gemeinsam und nicht mehr lokal über die Verabreichung diskutiert. Die Bundesländer sind sich diesbezüglich noch uneins“, sagte Thomas Czypionka, Head of Health Economics and Health Policy am Institut für Höhere Studien Wien (IHS).
Unterstützung erhält die Forschung an seltenen Erkrankungen durch den Trend zum Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) und die Digitalisierung. Das hilft beispielsweise bei der Diagnose, erklärte Susanne Kimeswenger von der Universitätsklinik für Dermatologie und Venerologie der Universität Linz. Sie arbeitet an der Erkennung eines sehr seltenen Hautkrebstyps, und zwar des kutanen T-Zell-Lymphoms, mittels KI. Dabei sollen künstliche neuronale Netzwerke dahingehend trainiert werden, dass sie diese „Tumorentität“ in Bildern von Gewebeproben feststellen.
Die fortschreitende Digitalisierung ermöglicht außerdem virtuelle Plattformen, Krankengeschichteregister und internationale Datenbanken. Im Rahmen des European Joint Programme on Rare Diseases - EJP RD wird beispielsweise der Aufbau einer Plattform für Daten und Ressourcen umgesetzt. Dort werden Forscher unterstützt, an anonymisierte Patientendaten zu kommen, um Medikamente und Therapien gegen die verschiedensten seltenen Erkrankungen zu entwickeln, sagte Dieter Hayn vom AIT Austrian Institute of Technology. Biobanken werden ebenso „angedockt“ sein wie Datenbanken zu medizinischen Studien und ein Portal zur Kinderkrebsforschung, das am AIT aufgebaut wird.
Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD)