Allerberger: An der Durchimpfung geht nichts vorbei

Mit Franz Allerberger, an der Universität Innsbruck für Hygiene, Mikrobiologie und Präventivmedizin 1992 habilitiert, tritt jetzt ein seit 2003 bei der AGES tätiger Doyen in Pension. Covid-19 hat die „Öffentliche Gesundheit“ der AGES in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Auf Faktenbasis formulierte Allerberger oft kantig. „Was rund um Covid-19 einzigartig ist, sind die Ängste der Bevölkerung“, so der Mediziner.

„Jeder einzelne Sterbefall ist tragisch. Jeder Fall sollte verhindert werden“, betonte Allerberger. „Aber wir haben eine Sterblichkeit bei allen seit Mai 2021 mittels PCR-diagnostizierten SARS-CoV-2-Infektionen von 0,3 Prozent. In der Kohorte der Ischgler Bevölkerung lag die Covid-19-Sterblichkeit bei 0,26 Prozent. Wir haben bisher rund 700.000 SARS-CoV-2-Infektionen diagnostiziert. Ich würde sagen, dass es aber zwei- bis dreimal mehr Infektionen gegeben hat. In der Bevölkerungsgruppe unter 65 Jahren liegt die Covid-19-Sterblichkeit immer unter ein Prozent“, führte Allerberger an.

Was für den bisherigen Leiter des Fachbereichs der „Öffentlichen Gesundheit“ problematisch ist: „Die Menschen haben die Bilder von Bergamo im Kopf und China mit den Formaldehyd-Versprühenden auf den Straßen. Dabei ist in Bergamo alles schiefgelaufen. Man darf nicht Covid-19-Kranke in Altersheime legen.“ Auch das von Hygieneteams in Ganzkörper-Plastikoveralls sinnlose, aber bildmäßig eindrucksvolle Versprühen von Formaldehyd auf Straßen in China oder Frankreich sei stark geeignet gewesen, große Ängste rund um Covid-19 zu verbreiten.

Auch in anderer Hinsicht sei hier von Verantwortlichen bei weitem nicht immer evidenzbasiert argumentiert worden. Allerberger kritisierte etwa WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus, „der von drei Prozent Sterblichkeit gesprochen hat“. Das sei eine Überschätzung um den Faktor 10 gewesen gegenüber dem, was in Österreich tatsächlich eingetreten sei. Der Experte, der in Zukunft keinesfalls weitere Kommentare aus dem Ruhestand abgeben will: „Wir haben im Jahr 2020 eine Übersterblichkeit von 6.400 Todesfällen gehabt. Vor fünf Jahren waren es durch die Influenza mehr als 4.000."

Die österreichische Strategie zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie basierte im Wesentlichen auf den Daten der AGES. „Unser Ziel war immer, die Kurve der Neuerkrankungen abzuflachen, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern“, sagte Allerberger. Da gehe es zum Beispiel speziell um die Intensivbetten in den Krankenhäusern. Dieses Dämpfen der Kurven sei und werde wahrscheinlich auch in der absehbaren Zukunft gelingen, betonte der Experte.

Fast zeithistorische Epoche, was öffentliche Gesundheit angeht

Die saisonale Schwankung der Infektions- und Erkrankungsraten bei Covid-19 sei aber offenbar überaus stark. Hotspots bei den Infektionen seien gegeben. Allerberger: „Wir haben zum Beispiel europaweit ein Problem mit Diskotheken, mit Fitnessklubs.“ Am Wert der Durchimpfung möglichst vieler Österreicher gehe nichts vorbei. Die Effektivität bei der Verhütung von SARS-CoV-2-Infektionen mit symptomatischem Verlauf liegt bei vollständig Geimpften im Vergleich zu nicht vollständig Geimpften in Österreich bei den über 40-Jährigen laut den AGES-Daten bei mehr als 90 Prozent. Allerberger: „Impfen, impfen, impfen!"

Das Problem rund um Covid-19 und dessen Wahrnehmung in der Gesellschaft, so Allerberger: Von der Angst komme man nur noch schwer weg. Stattdessen werde man wohl auch in Zukunft mit SARS-CoV-2 leben müssen: „Auch die verbreitete Hoffnung, man könne SARS-CoV-2 wieder ausrotten, ist offenbar falsch. Das geht nicht, wenn etwa 30 Prozent der Infektionen absolut symptomlos verlaufen.“ Die Covid-19-Impfungen verhindern wiederum zu einem hohen Anteil schwere Erkrankungen, bei weitem aber nicht alle Infektionen.

Allerberger überblickt mit jahrzehntelanger Erfahrung fast schon eine zeithistorische Epoche, was die öffentliche Gesundheit angeht: „Als ich 1983 in den Dienst eingetreten bin, hat es in Österreich noch die Bundesstaatlichen bakteriologisch-serologischen Untersuchungsanstalten gegeben“, erzählte er. Ein Thema waren die Salmonelleninfektionen: „Jahrzehntelang musste jeder im Gastgewerbe und in der Lebensmittelindustrie Beschäftigte regelmäßig Stuhlproben abgeben, die untersucht wurden. Das haben wir abgeschafft. Das Problem bei den Salmonellen waren nicht die untersuchten Menschen, sondern die Salmonellen in den Lebensmitteln.“ Gemeinsam mit den Geflügelzüchtern, der Lebensmittelindustrie und dem Handel habe man die Salmonellenproblematik in Österreich unter Kontrolle gebracht.

Das lief auch über einen völlig neuen Stellenwert von Infektionsepidemiologie: „2010 hatten wir einen Listeriose-Ausbruch durch Quargelkäse mit acht Toten“, berichtete Allerberger. Die Identifizierung der Ursache und des steirischen Herstellers erfolgte ausschließlich via Epidemiologie. „Die Opfer waren ältere Männer. Wir haben die Angehörigen gebeten, uns die Einkaufszettel aufzuheben. Und da war der Quargel drauf."

Ein Beispiel für modernste Analytik, wie der nunmehr in den Ruhestand tretende Experte erzählte: „Durch Genomsequenzierung konnten wir gemeinsam mit dänischen Kollegen einen europaweiten Salmonellenausbruch aufklären. Die Ursache waren aus Honduras importierte Zuckermelonen, die auch in kommerziellen Fruchtsalaten enthalten waren.“ Die Übereinstimmung der Erbsequenzdaten der Erreger aus Proben der Erkrankten und aus den Lebensmittelproben brachte den Durchbruch.

Freilich, den Grundsatz, die „Öffentliche Gesundheit“ in jeder Hinsicht auf aktuelle, rationale und sinnvolle Basis zu stellen, konnte Allerberger nicht immer realisieren, wie er abschließend erklärte: „Bei den Trichinen bin ich gescheitert. Noch immer wird jedes einzelne geschlachtete Hausschwein im Rahmen der amtlichen Fleischbeschau auf Trichinen untersucht. Das sind rund 5,5 Millionen pro Jahr. In 40 Jahren haben wir dabei keinen einzigen Trichinennachweis gefunden."

Was Aufwand und Ergebnisse betreffe, seien in der heutigen Zeit auch die verpflichtenden und alle sechs Wochen durchgeführten teuren Gonokokken-Untersuchungen von registrierten Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern nicht zielführend. Sie liefern laut Allerberger - wie immer - nur eine Momentaufnahme und seien außerdem für die Betroffenen entwürdigend.

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