Interview Verhaltensforschung

„Keine Art da draußen ist so radikal sozial wie wir!"

Kurt Kotrschal ist Verhaltensbiologe und vor allem für seine Arbeit zur Hund-Mensch-Beziehung bekannt geworden. Vor dem Hintergrund der Evolution hat er sich immer auch mit dem menschlichen Verhalten in allen Facetten beschäftigt. Im ersten Teil des medinlive-Interviews sprach er über seine Rolle als Wissensvermittler, warum wir mit Tieren mehr gemeinsam haben als uns bewusst ist und was der Lebensstil unserer Eltern mit unseren eigenen Entwicklung zu tun hat.

 

Eva Kaiserseder

medinlive: Sie sind als Wissenschafter quasi flächendeckend bekannt in Österreich, was bei Forschern keine Selbstverständlichkeit ist. Wie haben Sie ihre Rolle in der Grauzone zwischen Forschung und Wissensvermittlung angelegt?

Kurt Kotrschal: Das war nicht bewusst geplant, aber erstens habe ich es immer schon für wichtig gehalten, mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Wobei das Wissenschaftsverständnis in Österreich noch viel Luft nach oben hat, trotz Covid, wo das Interesse gestiegen ist. Und zweitens bearbeite ich auch für die Allgemeinheit interessante Themen, denn die Menschen interessieren sich prinzipiell für Tiere und Verhaltensforschung.

Vor über 20 Jahren habe ich begonnen, zum Thema Mensch-Tier-Beziehung zu forschen. 2008 wurde dann das Wolf Science Center in Ernstbrunn gegründet und auch im oberösterreichischen Almtal wurde dazu schon vorher geforscht, das sind einfach Themen, die gut ankommen. Vor Jahren bin ich zudem von der „Presse“ gefragt worden, ob ich eine Kolumne schreiben möchte, wo ich gerne zugesagt habe, weil ich sehr gerne schreibe und mir der Stoff wirklich nie ausgeht (lacht). Die Prämisse war: „Sie können über alles schreiben, aber erwarten Sie nicht, dass wir Sie verteidigen.“ Mit so einer Kolumne erreicht man natürlich auch viele Leser*innen.

medinlive: Eigentlich schreiben Sie hauptsächlich über Verhaltensformen in der Tierwelt und hier speziell über Hunde und Wölfe, das letzte Buch hat sich allerdings explizit um den Menschen gedreht. Wie kam es dazu?

Kotrschal: Es war der nächste logische Schritt. Die letzten 20 Jahre habe ich in meinen vielen Vorlesungen immer den stammesgeschichtlichen Bezug herausgearbeitet, also das, was wir Menschen mit Tieren gemeinsam haben – die stammesgeschichtliche Verwandtschaft sozusagen. Daher ist klar, der Mensch ist ohne Referenz auf andere Tiere nicht erklärbar. Außerdem sind wir biophil. Das bedeutet, dass es dem Menschen seit Urzeiten ein wesentliches Bedürfnis ist, in Kontakt mit der Natur zu leben. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal ist. Wir sind ohne Tiere nicht vollständig. Es ist eine relativ neue Erscheinung, dass Menschen tierfern leben, bis vor einigen Generationen war das ganz und gar nicht so. Es sind aber gerade im Zuge der Covid-19-Krise wieder viele Menschen draufgekommen, dass es durchaus nett und schön ist, einen Hund, eine Katze oder auch ein Schrebergärtchen zu haben, der Bezug zur Natur wird also in Krisen traditionell stärker.

medinlive: Plakativ gefragt: Wo sind denn jetzt die großen Unterschiede zwischen Menschen und anderen Säugetieren?

Kotrschal: Die ganz großen Unterschiede gibt es eigentlich nicht. Wir sehen etwas anders aus. Aber natürlich gibt es einige entscheidende Unterschiede, wir haben zum Beispiel mit Abstand das größte und leistungsfähigste Gehirn. Diese Entwicklung hat sich in den letzten paar hunderttausend Jahren ergeben, vor rund 700.000 Jahren dürfte es vermutlich eine Art Gehirnexplosion gegeben haben, wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Entwicklung der Symbolsprache. Wir sind wahrscheinlich auch die einzigen Tiere, die in größerem Ausmaß reflektieren, wobei sich für mich die Frage stellt, wie sinnhaft das ist. Die Philosophen sind natürlich der Meinung, dass es sinnhaft ist. Ich persönlich bin nicht so überzeugt, ob das Reflektieren über sich selbst und die Welt ein mehrheitsfähiges Programm ist (lacht). Die Fähigkeit dazu haben wir jedenfalls.

medinlive: Ist diese Fähigkeit wirklich menschliches Alleinstellungsmerkmal oder gibt es andere Säugetiere, die das in Ansätzen auch haben?

Kotrschal: Grundsätzlich gilt: Wir haben nichts, was andere Tiere qualitativ nicht auch hätten. Vor allem die Prinzipien und Mechanismen im Gehirn sind nahezu identisch. Auf Basis von Daten wissen wir, dass etwa Hunde von den Mechanismen her genauso denken wie wir. Hunde sind mitnichten nur Reiz-Reaktions-Lebewesen. Das ist aber nicht nur auf sie beschränkt. Wir teilen die Anatomie und die Funktionsweisen des Gehirns auch mit anderen Säugetieren, sogar mit Vögeln. Es gibt da unglaublich viele Gemeinsamkeiten, vor allem was das soziale Gehirn betrifft. Die Alleinstellungsmerkmale des Menschen sind also eher quantitativer als qualitativer Natur. Selbst eine gewisse Denkfähigkeit besitzen Tiere, was ihnen aber fehlt, ist die Fähigkeit zum frei fliegenden Geist.

Das hängt vermutlich mit der Symbolsprache zusammen. Wenn man die nicht hat, dann fehlt einem das Werkzeug, seine Emotionen bewusst zu äußern. Man kann vielleicht reflektieren, aber sich nicht gegenseitig davon erzählen. Schimpansen und Wölfe können das zum Beispiel nicht, obwohl sie kognitiv nicht so viel schlechter aufgestellt sind als wir. Unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, haben ungefähr 400-600 Kubikzentimeter Hirnvolumen, wir Menschen haben rund 1200-2000 Kubikzentimeter, hier variiert es enorm. Die Größe allein macht uns aber nicht aus, das hat mehr mit wichtigen Neuerungen zu tun.

Unser großes Gehirn ist eher wie ein Formel 1-Aggregat, dasjenige der Schimpansen entspricht tendenziell einem alten Volkswagen. Das menschliche Gehirn ist aber nicht nur toll, weil leistungsfähig, sondern wir sind am Ende der Fahnenstange angelangt, wir sind also kognitive Spezialisten und da entsteht nichts Neues mehr. Es ist nicht anzunehmen, dass wir das Potenzial haben, unser Hirn zu vergrößern und dessen Leistung zu steigern, vor allem wenn das Lebensumfeld nicht passt. Bekannterweise haben viele Menschen eine Menge psychischer und mentaler Probleme, was damit zusammenhängt, dass unsere Lebensweise nicht damit zusammenpasst, wofür unser Gehirn evolutionär konstruiert wurde.

medinlive: In Ihrem Buch „Mensch“ ist die Rede von der Biologie der Emotionen. Wie sind Emotionen stammesgeschichtlich und evolutionär geformt worden, aus welchen Ursachen und Motiven?

Kotrschal: Da muss man vorsichtig sein bei der Nomenklatur, denn wenn wir über Emotionen sprechen, dann meinen wir, dass sich Individuen derer bewusst sind. Das ist aber selbst beim Menschen nicht immer der Fall, denn es gibt genügend emotionale Analphabeten, die zum Beispiel das Pech hatten, nicht optimal betreut zu werden während der ersten Lebensjahre. Zudem gibt es gesellschaftliche Phänomene, etwa, dass Männer nicht über Emotionen reden. Aber wenn vom Kindergarten weg darüber gesprochen wird, dann wäre das etwas anderes. Es ist ähnlich wie bei Weinverkostungen: Wenn man Aromen bestimmte verbale Labels gibt, dann wird man sich darüber klar, wie etwas schmeckt und erinnert sich. Wenn das fehlt, dann kann man zwar sagen, dieser Wein schmeckt mir oder er schmeckt mir nicht, aber sehr viel genauer kann ich es nicht konkretisieren – dasselbe passiert mit Emotionen.

Ohne Bewusstsein dafür wird es schwierig, denn das ist die Basis für Empathiefähigkeit. Wenn ich selber nicht weiß, wie es mir geht, tue ich mich schwer, mit anderen umzugehen. Leider ist dieser Analphabetismus aber ziemlich weit verbreitet. Das System der Grundemotionen, also die Etablierung dieses Systems, ist der Verdienst des US-amerikanisch-baltischen Experimentalpsychologen Jaak Panksepp. Jedenfalls wurde klar gezeigt, wir teilen zumindest mit Säugetieren in der Stammesgeschichte die Grundemotionen. Diese These hat natürlich für viel Gegenwind gesorgt, vor allem in den USA, wo man religiös bedingt sehr stark der Meinung ist, Menschen seien einzigartig.

Emotionen sind ja Verhaltensantriebe und Menschen machen viele Dinge, die rational gesehen nicht besonders vernünftig sind. Vieles passiert aus dem Bauch heraus, etwa in Sachen Partnerschaft, wo zu einem späteren Zeitpunkt die Kognition entschieden widersprechen würde. Und wir teilen diese Grundemotionen etwa mit Hunden und Pferden. Aber wir wissen nicht, wie sich ein Hund konkret fühlt, wenn er zornig ist. Allerdings wissen wir in Wahrheit auch nicht, wie sich ein anderer Mensch fühlt, wenn er zornig ist.

medinlive: Das ist ja das Faszinierende, trotz all unserem Wissen,  Spiegelneuronen und Co. befinden wir uns alle in Einzelhaft, um es sehr fatalistisch auszudrücken.

Kotrschal: Das ist unvermeidlich, denn wie soll ich darüber, wie es dem anderen ganz genau geht, Bescheid wissen. Selbst Menschen, die darüber sprechen können, schaffen es nicht, sich komplett in jemand anderen hineinzuversetzen. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass Menschen komplett unterschiedliche Sinnes- und Gefühlswelten haben. Es ist sogar unwahrscheinlich, dass etwa Hunde besonders anders gestaltete Gefühlswelten hätten. Schlussendlich werden wir es aber nie ganz genau wissen können, ob sie nicht doch anders funktionieren und ticken.

medinlive: Sehr oft ist die Epigenetik in den letzten Jahren Thema gewesen, auch abseits der Science community und den Fachpublikationen. Wie erklären Sie einem biologischen Laien, was das ist?  

Kotrschal: Epigenetik beschäftigt sich mit dem Einfluss der Umwelt auf die Genexpression. Biologen waren bis vor rund 20 Jahren noch genetische Deterministen (der genetische Determinismus vertritt die Überzeugung, wonach alle Lebensformen und -vorgänge aus der Anzahl, Anordnung und dem Zusammenwirken von Genen vollständig erklärt werden, Anm. d. Red.). Als dann begonnen wurde, das menschliche Genom zu entschlüsseln, mit einem unheimlichen Aufwand, dachte man kurz: Jetzt hat man es geschafft, jetzt wissen wir alles, was es zu wissen gibt! Heute entschlüsselt eine einzige Maschine über Nacht 20 menschliche Genome zum Preis einer Blutprobe. Und die Epigenetik hat wie so oft in der Wissenschaft ungerechtfertigt große Erwartungen geweckt. Die meisten unserer Eigenschaften sind pleiotrop codiert und sitzen nicht auf einem Gen und unser Verhalten ist erst recht breit gestreut. Heute sucht man im Wesentlichen Korrelationen zwischen bestimmten Merkmalsausprägungen und Genetik. Man hat in der Zwischenzeit verstanden: Gene lassen sich nicht einfach nach Plan in bestimmte Merkmale übersetzen, sondern sind in ihrer Aktivität sehr stark von der Umwelt oder vom Lebensstil der Eltern beeinflusst.

Früher hieß es, mit der Reifeteilung, also der Bildung der Geschlechtszellen, sind gewisse genomische Prägungen wieder gelöscht, das ist aber falsch. Es ist eben nicht egal, ob der Vater trinkt, da kann die Mutter so gesund leben wie sie will, das hat trotzdem Auswirkungen. Es gibt aber auch die „mütterlichen Effekte“, gerade beim Menschen mit seiner langen Schwangerschaftsdauer. Gerade das erste Trimester wirkt sich sehr stark auf die Genexpression aus, ob die Mutter zum Beispiel Stress hat oder ähnliches. Lebewesen werden aus zwei Keimzellen kombiniert und innerhalb diesen Rahmens entwickeln sich dann Dinge wie Nervosität oder Nervenstärke. Dieser Grundstock wird sehr früh gelegt. Der wichtigste Einfluss ist aber der soziale: Keine Art da draußen ist so radikal sozial wie wir und so sehr auf den sozialen Kontext angewiesen. Das ist einzigartig. Hunde zum Beispiel, die ähnlich sozial gepolt sind, kann man während ihrem Heranwachsen viel schlechter als ein Menschenkind behandeln und sie entwickeln sich trotzdem noch gut. Menschliche Babys, deren Betreuung in den ersten zwei, drei Lebensjahren nicht optimal ist, tragen ganz wesentliche Konsequenzen davon. Das geht einher mit primärer sozialer Erfahrung, dazu gibt es ein Arbeitsmodell des Kinderarztes und Psychoanalytikers John Bowlby. Dessen Theorien aus den 1960er Jahren haben sich als physiologisch und biologisch untermauerbar herausgestellt. Sie besagen, dass bei optimaler Frühbetreuung im Wesentlichen ein sicher gebundener Mensch herauskommt, mit einem guten Selbstbewusstsein, der offen in die Welt hinausgehen kann und selbst entscheidet, mit wem er oder sie zu tun haben will. Vor allem entwickelt sich dann eine gute Emotionskontrolle, welche die beste Basis für kognitive Entwicklung ist.

Eine gute soziale Frühbetreuung ist also der Schlüssel und auch da gilt: Soziale Faktoren in der frühestens Entwicklung haben immense Auswirkungen auf die Genexpression. Bei 7,8 Milliarden Menschen mit unglaublich vielen Gemeinsamkeiten, mehr, als uns kulturell je zu trennen vermag, sind wir trotzdem unverwechselbare Individuen. Wir sind unglaublich komplex, aber nicht beliebig. Bestimmte Dinge sind biologisch angelegt, aber dennoch nicht einfach genetisch determiniert, sondern es geht hier um Entwicklungswege, die durch Umweltbedingungen angestoßen werden.

Zur Person

Kurt M. Kotrschal, Mag.rer.nat., PhD., geboren 1953 in Linz. Studium der Biologie an der Universität Salzburg, dort auch 1981 Promotion und 1987 Habilitation; 1976-1981 Forschungsaufenthalte an den Universitäten Arizona und Colorado, USA. 1990-2018 Leiter der Konrad Lorenz Forschungsstelle für Ethologie in Grünau/Oberösterreich und Professor i.R. am Department für Verhaltensbiologie Universität Wien. Mitbegründer des Wolfsforschungszentrums www.wolfscience.at und Sprecher der AG Wildtiere am Forum Wissenschaft und Umwelt. Mehr als 300 wissenschaftliche Beiträge in Fachzeitschriften, Buchbeiträge und Bücher, darunter Österreichs Wissenschaftsbuch des Jahres 2013. Wissenschaftler des Jahres 2010, seit 2006 Kolumnist der Tageszeitung „Die Presse“.

Buchpublikationen (Auswahl):

- Ist die Menschheit noch zu retten? Gefahren und Chancen unserer Natur. Residenz, April 2020

- Mensch. Woher wir kommen. Wer wir sind. Wohin wir gehen. Brandstätter, 2019

- Hund-Mensch. Das Geheimnis der Seelenverwandtschaft. Brandstätter, 2016

 

Den zweiten Teil des medinlive-Interviews mit Kurt Kotrschal lesen Sie kommende Woche.

 

 

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Kurt Kotrschal Porträt
Kurt Kotrschal gehört zu denjenigen Forschern in Österreich, die auch einem breiten Publikum bekannt sind. Der Verhaltensbiologe hat sich speziell mit der Hund-Mensch-Beziehung befasst und teilt sein Leben selbst seit Langem mit den Vierbeinern.
Brandstätter
„Wir haben nichts, was andere Tiere qualitativ nicht auch hätten. Vor allem die Prinzipien und Mechanismen im Gehirn sind nahezu identisch."