Genialer Kinderarzt und wissenschaftlicher Pionier
Wäre es nach seiner tiefreligiösen Mutter Flora gegangen, hätte Clemens von Pirquet sein Leben als Geistlicher im Jesuitenkolleg verbracht. Zum Glück für die Medizin rebellierte er aber gegen die mütterlichen Pläne und entschied sich für die ärztliche Profession, konkret für das damals noch blutjunge Fach Pädiatrie. Eine Würdigung des unermüdlichen Forschers, Kinderarztes und Entdeckers der Allergien zu seinem 92. Todestag.
„Eine außergewöhnliche Erscheinung, menschlich und fachlich“, so lautet der einhellige Tenor von Zeitgenossen und Nachgeborenen gleichermaßen, ist von Clemens von Pirquet die Rede. Der 1874 geborene Hirschstettner (damals das beinah ländliche Niederösterreich, heute der immer noch relativ grüne Teil des 22. Wiener Gemeindebezirk) prägte seine Fachgebiete, die Immunologie und Pädiatrie. Er wuchs als recht schüchternes, ruhiges, aber ungemein schlaues Kind und erklärter Liebling seiner Mutter auf, zu der er ein inniges Verhältnis hatte. Am Ziegelhof, dem Gut seiner Eltern, wuchsen die insgesamt sieben Kinder – sein älterer Bruder Guido wurde übrigens zum Pionier der frühen Raketentechnik – trotz ihrer adeligen Herkunft naturverbunden, ungezwungen und wenig restriktiv auf. Standesdünkel waren den Pirquets eher fremd.
Seine Schulzeit verbrachte Clemens als Viertgeborener im Schottengymnasium, am Kalksburger Jesuitenkonvent und am Wiener Theresianum, ein durchaus gängiger humanistischer Bildungsmix für so genannte „höhere Söhne“. Den Herzenswunsch seiner Mutter, das Theologiestudium, erfüllte er danach sogar noch eine Zeit lang geflissentlich, wie es seinem kooperativen Naturell entsprach, dieses führte ihn für kurze Zeit nach Innsbruck. Aber dann zog ihn die Medizin unwiderstehlich an. Vorher studierte Pirquet allerdings um 1893 noch an der philosophischen Fakultät der Universität Löwen (heute Louvain, Belgien), wo er 1894 mit dem Bakkalaureat abschloss.
Erste Schritte in die ärztliche Profession
Nach Wien zurückgekehrt, begann Pirquet, wahrscheinlich beeinflusst von seinem Schwager, dem Chirurgen Anton von Eiselsberg, sein Medizinstudium. Sehr zum Missfallen seiner Eltern übrigens, denn den Arztberuf hielt man damals in adeligen Kreisen nicht unbedingt für standesgemäß.
Alleine das Umfeld musste zu dieser Zeit ein höchst inspirierendes gewesen sein: In Wien wirkten 1894, als der junge Mann seine Ausbildung begann, viele Größen des Fachs, etwa der Physiologe Siegmund Exner oder der Bakteriologe Anton Weichselbaum, später Rektor der Universität Wien. Besonderen Einfluss auf Pirquets spätere Laufbahn hatte schließlich der deutsche Kinderarzt und Bakteriologe Theodor Escherich. Er galt als einer der einflussreichsten Ärzte seiner Zeit und entdeckte unter anderem das nach ihm benannte E. coli (Escherichia coli) Bakterium, das bei Säuglingen zu schwerem Durchfall führen kann. Für den wissbegierigen Pirquet stand außer Frage, die Vorlesungen zur Kinderheilkunde beim Star des Faches zu besuchen. 1900 promovierte er schließlich.
Warum Pirquet dann selbst Kinderarzt wurde, lässt sich nur vermuten. Escherich als Zünglein an der Waage oder doch die endlosen Forschungsmöglichkeiten rund um die Vielzahl an Infektionskrankheiten, die diese so junge Fachrichtung einem endlos neugierigen Jungmediziner bot? Wahrscheinlich waren es wie so oft viele Faktoren, die hier zusammenspielten und das entscheidende Quäntchen Zufall.
Parallel zu dieser Weichenstellung in beruflichen Fragen war Pirquet in Berlin (dort arbeitete er nach dem Studium an der Charité) seiner großen Liebe begegnet: Maria Christine von Husen hieß die junge Frau und von Anfang an war sie alles andere als wohlgelitten bei der Familie ihres künftigen Mannes, galt sie doch als jemand, der den hohen moralischen Werten der Familie Pirquet nicht entsprach und für die damalige Zeit recht emanzipiert war. Diese Dissonanzen entwickelten sich schließlich zu einer offenen Feindschaft. Eine wirkliche Aufgabe hatte Maria außerdem nach dem Umzug nach Wien nicht und als nach einer Operation nur mehr ihre Unfruchtbarkeit festgestellt werden konnte, schien sie schleichend der Melancholie und später dann Depression zu verfallen. Es spricht für Pirquet, dass er als äußerst fürsorglicher Ehemann galt und seine Frau auch in den ärgsten Zerwürfnissen mit seiner Familie nicht im Stich ließ. Über sie hieß es im Gegenzug, dass sie seine wissenschaftlichen Ambitionen enorm befeuerte.
Fundamentale Erkenntnis des Prinzips „Allergie“
Zurück zum Arzt Pirquet: An der Charité hielt es ihn nicht lang und so kehrte er 1901 nach einem Jahr ans Wiener St. Anna Spital zurück – wo Zufall sei Dank besagter Professor Escherich alsbald Klinikvorstand und Pirquets Lehrmeister in vielen Belangen wurde. Schnell stellte sich heraus, dass Pirquet für die Forschung brannte, aber deswegen keineswegs auf den Kontakt mit seinen Patienten verzichten wollte. Im Gegenteil, gerade das erachtete er für essentiell. Besonders die Immunologie hatte es ihm angetan.
Und was er hier entdeckte, erforschte und niederschrieb, hatte fundamentale Auswirkungen auf die Medizin, so Heimo Breiteneder, Universitätsprofessor für medizinische Biotechnologie und Experte in der molekularen Allergieforschung, der im Fachmagazin „Allergy“ mit seinem Team soeben einen Artikel zu Pirquets Leben und Wirken veröffentlicht hat: „Zwischen 1901 und 1910 entdeckte Pirquet grundlegende Eigenschaften des Immunsystems, die noch heute Gültigkeit haben. Im Jahr 1905 beschrieb er zum Beispiel zusammen mit seinem Kollegen Béla Schick (1877-1967) die Serumkrankheit. Pirquet und Schick stellten fest, dass die Verabreichung eines Serums, mit welchem Pferde gegen Diphtherie oder Scharlachfiebererreger immunisiert worden waren, zur Verbesserung und Heilung dieser Infektionskrankheiten beitrug. Nach einer Latenzzeit entwickelten die Patienten jedoch Fieber, Hautausschläge, geschwollene Lymphknoten, Albuminurie und Gelenkschmerzen. Pirquet bemerkte weiters, dass ein externes Agens (tierisches Serum) eine Veränderung in der Reaktivität des Immunsystems verursachte. Und für die Beschreibung der veränderten Reaktionsfähigkeit suchte er nach einer neuen Bezeichnung, prägte den Begriff der „Allergie“, den er aus dem Griechischen ableitete (allos = anders, ergon = Arbeit) und den er 1906 in der „Münchener Medizinischen Wochenschrift“ (MMW) vorstellte.“
In der MMW schreibt Pirquet dazu, dass es „ein neues, allgemeines, nicht präjudizierendes Wort für die Zustandsänderung, die der Organismus durch die Bekanntschaft mit irgend einem organischen, lebenden oder leblosen Gifte erfährt (…) gibt. Für diesen allgemeinen Begriff schlage ich den Ausdruck Allergie vor.“
Damit, mit dieser Begriffsdefinition, hat Pirquet nicht weniger als den Grundstein für die moderne Wissenschaft der Immunologie gelegt. Heutzutage sind die Begriffe „Allergie“ oder „Allergen“ allerdings weitaus enger gefasst, man versteht darunter die Reaktion eines prädisponierten Individuums auf allergieauslösende Substanzen wie Pollen, Milben, Lebensmittel oder Insektengifte – vor allem mittels Antikörpern des Typs IgE. In dieser engeren Bedeutung ist das Wort „Allergie“ mittlerweile zum Allgemeingut geworden, in der ursprünglichen Absicht Pirquets lag das aber nicht und ist auch nicht gemeint.
Der Tuberkulose-Nachweis
Am Deutlichsten zeigt sich das etwa bei der so genannten Pirquet-Probe, einem Tuberkulin-Test, bei dem es um den Nachweis von Tuberkulose ging. Damals wurde Tuberkulose mittels Impfung und damit verbunden durchaus heftigen Impfreaktionen nachgewiesen, Pirquets Methode war da eindeutig weniger belastend und „sanfter“ für den Körper. Tuberkulin, der sterile Extrakt der tuberkuloseauslösenden Bakterien, war ursprünglich vom Arzt, Mikrobiologen und späteren Nobelpreisträger Robert Koch als Impfstoff gegen Tuberkulose geplant gewesen, funktionierte aber als solcher nicht. Koch hatte bereits 1882 den Erreger Mycobacterium tuberculosis entdeckt.
Bei Pirquets Methode (1907) wurde mit einer Pipette Alt-Tuberkulin, das er aus den von Robert Koch entdeckten Bakterien isoliert hatte, an zwei Stellen im Abstand von 10 cm auf die entfettete Haut aufgebracht und anschließend mit einem von ihm konstruierten Instrument, einem speziellen Bohrer, in die Haut eingebohrt, also skarifiziert. Eine dritte Bohrung ohne Tuberkulin wurde als negative Kontrollstelle dazwischen angebracht, um eine unspezifische Reaktion abzugrenzen. Es gab mehrere Varianten des Testverfahrens. Wenn nach 48 Stunden Knötchen (Papeln) mit einem Durchmesser von mehr als 5 mm entstanden, war das Ergebnis positiv, was hieß, das eine vorausgegangene Tuberkuloseinfektion anzunehmen war. Die Probe ließ allerdings keine Rückschlüsse auf den Sitz oder die Aktivität der Tuberkulose zu.
Damit hatte Pirquet aber ein diagnostisches Hilfsmittel geschaffen, das vor allem für die Prophylaxe und die Tuberkulosefürsorge von Bedeutung war. Für diese Leistung wurde er insgesamt fünfmal für den Nobelpreis nominiert, den er aber nie erhalten hat. Pirquets Ideen wurden schließlich von Charles Mantoux zu einem diagnostischen Hauttest weiterentwickelt.
Ein eigenes Haus für die Pädiatrie
Seine Stationen hatten Pirquet derweil von der Berliner Charité, wo er seine Frau kennengelernt hatte, über das Wiener St. Anna Spital an die renommierte Johns-Hopkins-Universität geführt, wo er zwei Jahre als Professor der Kinderheilkunde wirkte. Dort baute er die Kinderklinik, das damalige „Harriet Lane Home for Invalid Children“, mit auf.
Allerdings zog es ihn bald wieder nach Europa, zuerst nach Breslau in Polen, dann zurück nach Wien. Dort hatte sich unter Theodor Escherichs Ägide, der 1902 dem Ruf nach Wien an die Universitätskinderklinik am St. Anna gefolgt war, auf sein Betreiben hin einiges getan. Escherich kritisierte vor allem den Status der Kinderheilkunde als fachliche (Noch)Marginalie, forderte den ihr zustehenden Platz an der Seite der anderen Spezialfächer und damit verbunden ein eigenes Haus, optimalerweise am Gelände des Allgemeinen Krankenhauses, auch, um dem massiven Platzmangel des wachsenden Faches Herr zu werden. Der Hintergrund: Die bisherige Beherbergung der Klinik am St. Anna Kinderspital endete laut Mietvertrag 1904, seit 1850 war die Universitätskinderklinik hier beheimatet gewesen.
Außerdem wollte Escherich unbedingt verstärktes Augenmerk auf den klinisch-wissenschaftlichen Bereich legen. Pirquet hatte dann das große Glück, zumindest einen Teil der Früchte von Escherichs Bemühungen zu ernten: Die schleppende Finanzierung verzögerte den Baubeginn am Gelände des Allgemeinen Krankenhauses, erst 1910 wurde damit angefangen – und schon 1911 starb Escherich 74-jährig an den Folgen eines Schlaganfalls. Am 4. November 1911 übernahm Pirquet offiziell die Geschicke der Kinderklinik, wurde damit Escherichs Nachfolger – und blieb es bis zu seinem Suizid im Februar 1929.
Eins vorweg: Die Kinderklinik am AKH genoss bald Weltruf und zwar solcherart, dass sogar der damals schon bekannte Reiseführer „Baedeker“ einen Besuch selbiger in seiner Wien-Ausgabe empfahl. Was die Klinik so herausragend machte, ist laut Heimo Breiteneder vor allem Pirquets Vorreiterrolle zu verdanken. Er etablierte „eine heilpädagogische Abteilung, die sich als erste weltweit mit der klinischen Erforschung und Behandlung von hirnorganischen Schädigungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern beschäftigte. Medizinische Unterstützung für Kinder aus sozial schwachen Familien war dabei ebenfalls ein Thema.“ so Breiteneder.
Ein Pionier auf seinem Höhepunkt
In seiner Antrittsrede 1911 sprach Pirquet unter anderem davon, dass ihm „akute und chronische Infektionskrankheiten und deren wissenschaftliche Untersuchungen am meisten am Herzen lägen“ und betonte die Wichtigkeit der Praxis für die Studierenden, die das Fach Kinderheilkunde damals nur ein oder zwei Semester lang belegten. Er selbst versammelte dazu dreimal die Woche seine Studenten im Hörsaal der Klinik, um mit ihnen aktuelle Fallbeispiele durchzugehen.
Auf dem Dach des Hauses errichtete er außerdem eine Freiluftstation für Kinder, die an Tuberkulose erkrankt waren und last but not least setzte Pirquet neue Maßstäbe in der Krankenpflege. „Diese sah solcherlei aus, dass Pirquet – wie auch schon der bedeutende Chirurg Theodor Billroth – schlicht der Bedeutung der Pflege im medizinischen Versorgungskonzept einen extrem hohen Stellenwert einräumte, einen wesentlich höheren, als es zur damaligen Zeit üblich war.“ betont Breiteneder. Ihm war es wichtig, die Expertise des Pflegepersonals in seine Forschung miteinzubeziehen, was darin mündete, dass Pirquet 1911 an der Klinik einen Ausbildungskurs etablierte, der 1913 in die erste öffentliche Krankenpflegeschule im Allgemeinen Krankenhaus integriert wurde. Über seine Klinik wurde später geschrieben, dass es „zum unverwechselbaren Profil der Pirquet-Klinik gehört, dass somatische und psychische Betreuung Hand in Hand gehen.“
Die Kinderklinik verdankt Pirquets Bemühungen jedenfalls ihren damaligen Weltruf, alleine die Bettenzahl verdeutlicht sein Engagement: Bei der Eröffnung gab es 120 Betten auf acht Abteilungen verteilt, 18 Jahre später war die Kinderklinik auf 220 Betten angewachsen und die tägliche Ambulanzfrequenz von 50-80 Patienten auf 100-150 gestiegen.
Kinderernährung als Pirquets zweite Leidenschaft
Nachdem Pirquet die Klinik fachlich und organisatorisch aufgebaut hatte, widmete er sich wieder verstärkt der Forschung und hier vor allem den Infektionskrankheiten, konkret den Masern. Pirquet war schon damals ein großer Verfechter des Impfens, seine Karriere als Wissenschaftler hatte ja auch bei diesem Thema seine Anfänge genommen, und er setzte sich vehement für eine Impfpflicht ein. In Vorträgen und Zeitungsartikeln zu dem Thema wollte er der Bevölkerung die großen Vorzüge des Impfens nahebringen – und stieß dabei auf durchaus heftigen Widerstand. History repeats itself also, auch heute sind Impfungen unter Eltern ein Thema, das die Gemüter zuverlässig erhitzt. Anno 1915 aber lösten Impfungen als relativ neues Thema in der Medizin vor allem große Ängste aus und ja, sie hatten Nebenwirkungen, wie alle Entwicklungen, die noch in den Kinderschuhen steckten. Ein so genanntes Impfzwanggesetz gab es übrigens tatsächlich eine Zeit lang, es betraf die die Impfung mit BCG (Bacillus Calmette-Guérin als Lebendimpfstoff gegen Tuberkolose) und eine Poliovakzine.
Der zweite große Schwerpunkt in Pirquets wissenschaftlicher Arbeit war neben der Immunologie aber ein ganz anderer, nämlich die Kinderernährung, vor allem die damals gereichte Ersatznahrung betreffend: Oftmals war diese mit Mehl vermischt und den sensiblen Verdauungsorganen von Säuglingen überhaupt nicht zuträglich, im Gegenteil: So genannte „Mehlnährschäden“ waren damals gang und gäbe und ein großer Teil der Todesfälle im Säuglingsalter hatte mit den Verdauungsorganen zu tun. Höchste Zeit, hier zu handeln - das wusste schon Pirquets Vorgänger Theodor Escherich: Er betonte, dass die Kindermilch in ihren Eigenschaften sehr eng an die Muttermilch angelehnt sein sollte, um überhaupt einen Nutzen zu haben.
Pirquet selbst beschäftigte sich im Rahmen der Kinderernährung vor allem mit einem eigens entwickelten System, das die optimalen Mengen und Zahlen herausarbeitete, die einen Säugling oder später auch Kleinkinder gut gedeihen ließen. Das so genannte NEM-System basierte auf Escherichs Erkenntnissen, die Pirquet schließlich ergänzte und vertiefte.
NEM (Nähr-Einheit-Milch) steht dabei für die Milch als Grundlage, 1 NEM entspricht einem Gramm Milch. Aufgrund von Indexzahlen, die sich aus der Sitzhöhe und dem Gewicht des Kindes errechneten, wurde der Nahrungsbedarf ermittelt. Wesentlich war dabei, dass Pirquet Milch nicht einfach nur als Getränk ansah, sondern als eigenständige Speise, als Grundnahrungsmittel. Liest man sich dazu die umfassenden Berechnungen, Abmessungen und Darstellungsformen Pirquets durch, die er rund um das NEM-System angefertigt hat, kommt man nicht umhin, beeindruckt von der Akkuratesse zu sein, mit der er sich in dieses Thema vertieft hat. Wichtig war ihm dabei aber, das Thema trotz aller Komplexität verständlich zu gestalten.
Pirquet selbst meinte dazu, dass „das System im Wesentlichen aus folgenden neuen Punkten besteht:
- Die Milch ist als natürliche Einheit aufgeführt und im metrischen System verwendet. Alle Nahrungsmittel werden in ihrem physiologischen Wert mit der Milch verglichen. Das erspart uns die schwer verständlichen Berechnungsarten.
- Das Nahrungsbedürfnis des einzelnen wird in zwei Faktoren zerlegt: Die Größe und Aufnahmefähigkeit seines Darmkanals (Darmfläche) und die vom Individuum erwartete Betätigung (Funktion)
- Ein Maßstab und mehrere Tafeln setzen an Stelle der mathematischen Berechnung eine einfache Ablesung und ermöglichen außerdem die praktische Auswahl der Nahrungsmittel nach der jeweils gegebenen Preislage.
Das NEM-System bildete nach dem Ersten Weltkrieg übrigens die Grundlage für eine groß angelegte Kinderausspeisung, die sogenannte „Amerikanische Kinderhilfsaktion“, die Pirquet von 1919 bis 1921 koordinierte und organisierte. Schlussendlich wurde Pirquet dann Vorsitzender des Völkerbundkomitees für Säuglingsfürsorge.
Sein System war allerdings weder ohne Mängel noch ohne gravierende Kritik, die ihm entgegenschlug, vor allem der rein rechnerische Aspekt seiner Lehre wurde mit Skepsis beäugt. So meinte etwa der bekannte Kinderarzt Hans Asperger 1974, dass „schon zu Pirquets Lebzeiten gewichtige Einwände dagegen (das NEM-System, Anm.) erhoben wurden, vor allem dass es ein rein quantitatives Konzept sei, wo nach dem Isodynamiegesetz alles durch alles ersetzbar sei (besonders durch Kohlehydrate). Aber das führte, besonders bei empfindlichen Kindern, tatsächlich zu beträchtlichen Ernährungsstörungen. Pirquet war aber darin ganz festgefahren.“
Eine Lücke, die nicht gefüllt werden konnte
Mittlerweile, in den Zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, war Pirquet eine Person von so beträchtlichem öffentlichen Ansehen geworden, dass sein Name sogar in Zusammenhang mit einer möglichen Präsidentschaftskandidatur fiel. Überliefert ist allerdings, dass Pirquet das zwar als große Ehre sah, aber nicht als ernsthafte Option.
Währenddessen befand sich die Wiener Kinderklinik in einer Hochphase, denn Pirquet war nicht nur selbst ein hervorragender Wissenschaftler und Arzt, sondern auch ein aufmerksamer Lehrer, der seine Studierenden förderte und forderte. Er hatte den Ruf, liberal zu sein, offen und mit feinem Humor ausgestattet. Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse waren gerade im „Roten Wien“, also der Blütezeit der Sozialdemokratie in der Hauptstadt, für den Ausbau des Fürsorge- und Wohlfahrtswesens eine wichtige fachliche Grundlage. Immer wieder bekam er als Koryphäe der Kinderheilkunde Angebote aus dem Ausland, aber egal wie renommiert die Universität auch war, Pirquet war und blieb Wien verbunden.
Hier starb er auch am 28. Februar 1929 unter tragischen und nie wirklich geklärten Umständen: Mit gerade einmal 54 Jahren verübte er gemeinsam Suizid mit seiner Frau, die wohl schon lange depressiv war. Franz Hamburger, ebenfalls ein Assistent Escherichs, glühender NS-Anhänger und erklärter Konkurrent von Pirquet, wurde sein Nachfolger. Er wurde als Reaktionär empfunden und als jemand, der Pirquets Leistungen nicht anerkannte und sogar negierte und ausgerechnet dieser Arzt leitete die Kinderklinik nun von 1930 bis 1945. „Durch die Pirquet-feindliche Haltung von Hamburger wurde eine große Lücke in die Allergieforschung bis in die 1960er Jahre gerissen, wissenschaftliche Grundlagenuntersuchungen fanden praktisch nicht statt. Erst Professor Dietrich Kraft hat die Allergieforschung in Österreich auf molekularbiologischer Basis neu etabliert und so den Grundstein für die heutige allergologische Spitzenforschung an der MedUni Wien gelegt.“ so Breiteneder, der weiters meint, das „Pirquet weltweit in Medizinerkreisen bekannt für die Schaffung des Begriffes „Allergie“ ist, bedauerlicherweise aber die breite Öffentlichkeit kaum etwas über ihn weiß.“
Pirquets Tod kam selbst für die ihn nahestehenden Menschen überraschend, die allerorten veröffentlichten Nachrufe würdigten ihn über die Maßen, so schrieb etwa die „Volks-Zeitung“: „Aber die Kinderklinik Pirquets ist mehr als eine wissenschaftliche und Heilanstalt: sie ist eine moderne soziale und pädagogische Tat. Und so war es mit dem ganzen Wirken und Schaffen Pirquets: das Wissenschaftliche schlug bei ihm stets ins Menschliche und Soziale um – der Mann, der keiner Partei angehörte und sich nie um Politik gekümmert hat, war für sein kleingewordenes Land von hoher politischer Bedeutung.“
Clemens Peter Freiherr Pirquet von Cesenatico wurde am Wiener Zentralfriedhof neben seiner Frau in einem Ehrengrab bestattet.
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Den historischen Hintergründen dieser Hilfsaktion („Amerikanische Kinderhilfsaktion“) widmen sich einerseits Kurt Bednar in seinem Buch „Der Papierkrieg zwischen Washington und Wien 1917/18“ und andererseits Franz Adlgasser in seiner Dissertation „American individualism abroad: Herbert Hoover, die American Relief Administration und Österreich, 1919-1923“.)
Auch der Artikel von Gerhard Strejcek in der Neuen Zürcher Zeitung, „Amerikanische Hilfe rettete nach dem Ersten Weltkrieg eine Generation Österreicher vor dem Hungertod“ beschäftigt sich mit dieser Thematik.
Die Biographie von Gabriele Dorffner und Gerhard Weippel (Vier Viertel Verlag, 2004, antiquarisch erhältlich) beinhaltet nebst vielen Einblicke zur Person Clemens von Pirquet auch medizinhistorisch interessante Fachliteratur.
Kurzer filmischer Einblick in den Alltag der Kinderklinik (anno 1922)