50. Todestag Lorenz Böhler

Perfektionist und Pionier

Lorenz Böhler gilt weithin als derjenige, der die moderne Unfallchirurgie maßgeblich vorangetrieben hat. Er war schon zu Lebzeiten eine Koryphäe. Der Vorarlberger starb vor 50 Jahren in Wien, in dem nach ihm benannten und mitkonzipierten Unfallkrankenhaus. Zeit seines Lebens kämpfte er für die Anerkennung seines Faches als Spezialdisziplin.

Eva Kaiserseder

Man darf sich Lorenz Böhler wohl als ambitioniertes Kind vorstellen: Schon als junger Bub erzählte er seiner Großmutter, dass er einmal „ein Lipburger werden will“, wie er sich in einem Radiointerview aus 1967, damals schon hochbetagt, erinnerte. Dieser Josef Lipburger, seines Zeichens ab 1887 der erste Chirurg in Vorarlberg, imponierte dem kleinen Lorenz scheinbar ungemein. Eine Initialzündung war zudem ein Nachbar, der nach einem Unfall arbeitslos geworden war, „und ich dachte mir, da muss man doch helfen können“, so der 1885 geborene Böhler weiter.

Gedacht, getan: Nachdem er 1905 nach Wien an die Medizinische Universität kam, war klar, wie die weitere Stoßrichtung aussah: Es zog ihn umgehend zu Julius Hochenegg, Chirurg und seit 1904 Vorstand der dortigen II. Chirurgischen Klinik. Dieser gründete zudem die ersten Unfallstationen weltweit an der I. und II. Universitätsklinik für Chirurgie im AKH Wien, gemeinsam mit Anton Eiselsberg. Nach dem Abschluss des Studiums 1911 arbeitete Böhler dann unter anderem als Schiffsarzt, wodurch er beispielsweise Südamerika kennenlernte. 1914 ging er für einige Monate an die renommierte Mayo-Klinik in Rochester/USA, die damals als beste chirurgische Klinik weltweit galt. Und dann brach der Krieg aus.

Die Zäsur des Ersten Weltkrieges

Böhler durchlief recht bald nach Kriegsbeginn Stationen als Truppenarzt und jüngster Regimentsarzt überhaupt - mit 30 Jahren. Auf seinen Erfahrungswerten aufbauend wollte er ein eigenes Krankenhaus nur für Knochenbrüche und Gelenksschüsse aufbauen, denn „ich fand, hier wurde zu wenig und nicht zweckmässig genug gemacht“, so sein Motiv. Im Bozener Kriegsspital, wo er 1916 eingesetzt wurde, gelang ihm das schließlich. Zuerst in Eigenregie (Material und Ausrüstung beschaffte er selbst), später dann auch mit offizieller Genehmigung: Das Lazarett trug nun den Titel Spezialabteilung für Knochenschussbrüche und Gelenkschüsse.

Nach kurzer Kriegsgesfangenschaft ging es für Böhler zurück nach Wien. Es war naheliegend, dass die damalige, 1889 gegründete Allgemeine Unfallversicherungsanstalt in Wien (AUVA) und Böhler mehr als nur einen Berührungspunkt hatten. „Zufällig fand ich schon 1917 eine Statistik dieser Anstalt, in der stand, dass nur neun von 100 Oberschenkelbrüchen heilten, zwei daran starben und 89 schwere Behinderungen durch Verkürzung, Versteifung, Muskelschwund und ähnliches davontrugen, sodass sie berentet werden mussten“, fasste Böhler zusammen. Auch die AUVA hatte naturgemäß großes Interesse, diese Zustände zu verbessern. Die Annäherung zwischen Böhler und der AUVA mündete in eine noch nicht näher definierte Zusammenarbeit.

Vorher musste Böhler aber noch Überzeugungsarbeit leisten, indem er mit den in Bozen fotografierten und dokumentierten Fällen zum damaligen Anstaltsdirektor ging und selbstbewusst erklärte, er könne mit seinen Methoden „die Renten um mindestens 50, wahrscheinlich aber sogar 70 Prozent herabsetzen“. Böhlers Ziel war, Verletzte sofort und umgehend zu behandeln und damit die oft katastrophalen Folgen der Unfälle drastisch zu reduzieren. Für die AUVA war das selbstredend auch aus volkswirtschaftlicher Sicht sinnvoll und auch der sozialdemokratische Stadtrat für Wohlfahrts- und Gesundheitswesen, Julius Tandler, galt als wichtiger Fürsprecher dieser geplanten Verbesserung.

Das alte Unfallkrankenhaus

So wurde nach einigen, teils jahrelang bestehenden Schwierigkeiten wie etwa der galoppierenden Inflation und einer nötigen Gesetzesanpassung der vierte Stock des AUVA-Hauses in der Webergasse im 20. Wiener Gemeindebezirk zum „Unfallkrankenhaus der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt“ umfunktioniert. Das riesige Haus, ursprünglich als Zentrale für die gesamte  Habsburgermonarchie gedacht, hatte nach der Republiskgründung viel Leerstand. Zum Glück für Böhlers Plan. Auch eine Gesetzesnovelle war nötig, denn „ursprünglich hatten nur Krankenkassen das Recht, Unfälle zu behandeln, die Unfallversicherung durfte nur die Renten zahlen, das wurde 1919 adaptiert. Ab da an wurde es auch diesen Anstalten erlaubt, Heilverfahren bei frischen Unfällen an sich zu ziehen“, so Böhler.

Am 1. Dezember 1925 eröffnete das Unfallkrankenhaus also offiziell seine Pforten. Zu Beginn gab es 52 Betten, schnell wurde aber sukzessive erweitert und der gesamte dritte Stock dazugenommen. 100 Betten standen damit zur Verfügung, als Ärztlicher Leiter fungierte von Beginn an Böhler selbst. 1934 hatte das Krankenhaus bereits 120 Betten und einen Turnsaal, es kamen neue Operationssäle, eine eigene Blut- sowie Knochenbank plus eine zentrale Sterilisieranlange dazu. Böhler bezifferte die damalige Errichtung als „auffallend günstig, 340.000 Schilling kostete die Neuerrichtung damals“.

Pionier bei der Nagelextension

Was war nun das Besondere an Böhlers Zugang? Seine „funktionelle Therapie schuf eine Alternative zur Immobilisierung. Damit wurde Böhler lange Zeit der weltweit wohl wichtigste und einflußreichste Experte auf dem Gebiet der Knochenbruchbehandlung. (...) Die Prinzipien der Böhler´schen Vorgehensweise bestanden im Einrichten des Bruchs und dem dauerhaften Festhalten der Bruchstücke. Dieses Festhalten erfolgte durch Schienen- und Gipsverbände, Dauerzugverband oder in bestimmten Fällen durch Osteosynthese. Dazu kam als wichtigstes Element des Konzepts die Bewegungs- und Übungsbehandlung. Er favorisierte generell ein nicht-operatives Herangehen. 1957 vertrat er auf dem Boden seiner über Jahrzehnte dokumentierten Ergebnissen die Ansicht, daß die Osteosynthese nur in Form der Nagelung von Schenkelhals und Oberschenkel Sinn mache, ansonsten aber die konservative Therapie der operativen überlegen sei“, liest man in einem Beitrag von Thomas Schlich im Band „Geschichte operativer Verfahren an den Bewegungsorganen“ des Deutschen Orthopädischen Geschichts- und Forschungsmuseums. Böhlers System beruhe vor allem auf der perfekten Beherrschung seiner Techniken vor allem des Gipsverbandes und der Extension, so Schlich weiter. Andere Ärzt:innen würden daran regelmäßig scheitern. 

Böhler selbst sah seine Arbeit anfangs widrigen Umständen ausgesetzt, er empfand, dass viele Ärzt:innen ihre Patient:innen gar nicht ins Unfallkrankenhaus schicken wollten, vermutlich zu Recht. „Bekrittelt wurde seine fehlende Facharztausbildung, die Patient:innen, die zunächst in das Unfallkrankenhaus eingeliefert wurden, seien oft Simulanten, die eine Rente oder zumindest einen langen Krankenstand anstrebten und die Krankenkassen bewilligten keine Behandlungen in Böhlers Privatordination“, so ein biografischer Abriss zu Böhler an der ÖÄW (Österreichische Akademie der Wissenschaften). Die Behandlung von 150 Verletzten täglich galt aber als Durchschnitt und bald hatte sich Böhler den Respekt seiner Kollegen erarbeitet.

Der Vorarlberger galt vor allem bei der Nagelextension als Pionier. In den USA hatte er sich die Versorgung der Oberschenkelhalsfraktur durch Drei-Lammellennägel in Grundzügen bei seinem Kollegen Marius Nygaard Smith-Petersen angesehen und dort erlernt, sodass er schlussendlich im Herbst 1930 die erste derartige Nagelextension in Europa durchführte. Grob skizziert und eher laienhaft ausgedrückt geht es bei Nagelextensionen allgemein um einen notwendigen Dauerzug, der Verkürzungen und Verbiegungen bei Frakturen verhindert, und der mittels eines Nagels, der durch den Knochen geschlagen wird, ausgeübt wird.

NS-Zeit und das neue Unfallkrankenhaus

Das Gebäude in der Webergasse selbst überstand den Zweiten Weltkrieg trotz schwerer Schäden, Operationen wurden zuweil bei Kerzenlicht durchgeführt. Böhler, der schon 1938 der damals noch illegalen NSDAP beigetreten war, wurde bei Ausbruch des 2. Weltkriegs Stabsarzt in der Wehrmacht. Später kam er nach Russland und Polen und leitete ein Lazarett in Wien mit rund 400 Betten in der Rudolfsstiftung. Vielfach wird Böhlers Verhältnis zum Nationalsozialismus mit karrieretechnischen Motiven begründet, zudem sollen dem extrem strukturiert arbeitenden Böhler die straffen Organisationssysteme des NS-Systems sehr entgegengekommen sein. Als Konsequenz seines frühen Parteieintritts war er bis 1946 ein „Illegaler“ und erhielt bis 1947 ein Lehrverbot an der Wiener Universität, wurde aber durch eine persönliche Fürsprache des damaligen Präsidenten Karl Renner amnestiert.

Etwas, für das Böhler lange und ambitioniert gekämpft hatte, wurde 1951 endlich umgesetzt: Die Unfallheilkunde wurde zum Spezialfach und der Facharzt im Ärztegesetz verankert. 1954 wurde er selbst zum ordentlichen Professor für Unfallchirurgie ernannt. Ein später Triumph war zudem der Neubau des Unfallkrankenhaus in der Wiener Donaueschingegasse, das 1972 eröffnet wurde und seinen Namen trägt. In diesem Krankenhaus, das zwischen 1970 und 1983 von seinem Sohn Jörg geleitet wurde, starb Lorenz Böhler am 20. Jänner 1973. Er wurde 88 Jahre alt.

Umstrittene Neuausrichtung

„Traumazentrum Wien Standort Lorenz Böhler“ heißt es seit 2018, das 1972 eröffnete Lorenz Böhler Unfallkrankenhaus. Als „zwei große „Gesundheitsbrücken“ zwischen AUVA und KAV (nunmehr WIGEV, Anm.d.Red.) in Wien“ wurde die Neuausrichtung von offizieller Seite konzipiert und kommuniziert: Die medizinische Unfallversorgung im Süden zwischen dem Traumazentrum Meidling und der jetzigen Klinik Favoriten auf der einen Seite sowie dem Standort Lorenz Böhler und der nunmehrige Klinik Donaustadt. So lautete der Plan.

Konkret ist das Krankenhaus Meidling dabei für die Unfallchirurgie zuständig, das Unfallkrankenhaus Lorenz Böhler für Ambulanz und Nachsorge. Diese Teilung stieß vor allem in Fachkreisen auf gemischte Reaktionen, um es euphemistisch auszudrücken.

So hat etwa Harald Hertz, lange Jahre Ärztlicher Leiter des Lorenz Böhler UKH, in einem Interview mit dem Wochenmagazin „profil“ aus 2020 gemeint, Patient:innen „kurz nach der OP in ein anderes Haus zu verlegen, ist vielleicht für die Finanzen des Betreibers, der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA),gut, für die Patient:innen ist es untragbar. Auch an das Verschleppen von Krankenhauskeimen muss man hier denken. Es ist mir unverständlich, warum man das Lorenz Böhler dermaßen amputieren will. Mir kommen die Tränen, wenn ich so etwas höre.“ Damals stand eine Umstruktierung des Spitals in ein reines Ambulanzzentrum im Raum, es gab Proteste und eine Petition mit rund 8.000 Unterschriften.

Auch aus den standespolitischen Reihen gab es heftige Kritik, vor allem was die Personalsituation und Patientensicherheit betraf. Laut AUVA-Führung sollten mit Oktober 2020 Ärzt:innen für den Zeitraum von drei Monaten aus dem Lorenz-Böhler-Krankenhaus ins Krankenhaus Meidling wechseln. „Diese Rotation bringt keine ‚Verbesserung der Fachkenntnisse’, wie kolportiert wurde, sondern führt nur zur Zerstörung von gut eingespielten Teams und damit zu einem Qualitätsverlust“, so Wolfgang Weismüller, damaliger Kurienobmann der Angestellten Ärzte der Wiener Wiener Ärztekammer.

Die zwischenzeitlich immer wieder kolportierte Schließung des stationären Bereichs scheint jedenfalls vom Tisch. 

Traumazentrum Wien Standort Lorenz Böhler
Das 1972 eröffnete Lorenz Böhler Unfallkrankenhaus wurde 2018 umbenannt und mit dem Traumazentrum Wien Standort Meidling, ehemals das Unfallkrankenhaus Meidling, organisatorisch zusammengelegt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lorenz Böhler in Besprechung mit Patient
Lorenz Böhler (Mitte mit weissem Bart) anno 1965 während einer Besprechung.
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„Zufällig fand ich schon 1917 eine Statistik dieser Anstalt (der AUVA, Anm. d. Red.), in der stand, dass nur neun von 100 Oberschenkelbrüchen heilten, zwei daran starben und 89 schwere Behinderungen durch Verkürzung, Versteifung, Muskelschwund und ähnliches davontrugen." - Lorenz Böhler
Unfallkrankenhaus der AUVA in der Webergasse, Wien 20
1925 wurde der vierte Stock des AUVA-Verwaltungsgebäudes in Wien 20 in der Webergasse als Unfallkrankenhaus nach Lorenz Böhlers Vorstellungen eröffnet. Nach rascher Expansion war es bis 1972 dort ansässig.
wikicommons_Wolfgang Bauer