Wie der ERC am Dienstag bekannt gab, werden in Summe 657 Mio. Euro ausgeschüttet. Die Fördernehmer:innen kommen aus 37 Ländern und werden in 18 europäischen Staaten ihre Projekte verwirklichen. Die meisten Preise werden an Wissenschafter:innen vergeben, die in Deutschland (62), Frankreich (41) und Spanien (24) tätig sind.
Laut ERC gehen fünf Förderpreise an Forscher der Universität Wien: Die Asienwissenschafterin Jeanine Dagyeli vom Institut für Orientalistik wird sich in ihrem ERC-Projekt mit Bergbau- und Industriezentren in der ehemaligen Sowjetunion auseinandersetzen. Sie untersucht dabei, wie Menschen in diesen Regionen mit deren Wandel umgehen: Diese früheren Aushängeschilder der Modernität schlitterten nach dem Zerfall des Weltreichs in eine schwere Krise und sind nun mit enormen Umweltzerstörungen konfrontiert.
Konservierungspraktiken von Museen und Sammlungen stehen im Mittelpunkt des ERC-Projekts der Kunsthistorikerin Noémie Etienne vom Fakultätszentrum für transdisziplinäre historisch-kulturwissenschaftliche Studien der Uni Wien. Sie will sich dabei nicht nur mit Möglichkeiten der Pflege von Objekten und Sammlungen innerhalb und außerhalb von Museen beschäftigen, sondern auch untersuchen, wie Kolonialismus-Praktiken und Diskurse die Pflege und Bewahrung beeinflussen.
Der Biophysiker Julien Orts vom Institut für Pharmazeutische Chemie der Uni Wien will mit der ERC-Förderung ein Messgerät (Kalorimeter) mit atomarer Auflösung entwickeln, um Wechselwirkungen zwischen Molekülen zu erforschen. Von thermodynamischen Messungen innerhalb von Molekülen und Molekülkomplexen erwartet er sich ein besseres Verständnis der Vorgänge bei biologischen Prozessen, was in der Entwicklung neuer therapeutischer Lösungen münden könnte.
Nagetierreservoirs und ihre Verbindungen zu Pest und Lepra
Die Übertragung von Krankheitserregern zwischen Menschen und Tieren in der Vergangenheit will die Paläogenetikerin Verena Schünemann vom Departement für Evolutionäre Anthropologie der Uni Wien in ihrem ERC-Projekt erforschen. Sie will sich dabei auf Nagetierreservoirs und ihre Verbindungen zu Pest und Lepra konzentrieren und damit das Verständnis von Mechanismen vergangener Epidemien und der Entwicklung wiederauftretender Zoonosen verbessern.
Der ERC führt weiters den Chemiker Michal Juricek als Förderpreisträger an der Uni Wien an, der sich mit Kohlenstoff-Nanostrukturen beschäftigen will. Seitens der Uni Wien betonte man gegenüber der APA, dass es derzeit noch keine Information darüber gebe, ob und wann der an der Uni Zürich tätige Forscher nach Wien komme.
Vier „Consolidator Grants“ gehen an Forscher des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg (NÖ), drei davon sind Physiker: Johannes Fink arbeitet an Verbindungen zwischen supraleitenden Schaltkreisen als Hardware-Plattform für Quantencomputer sowie Glasfasern, um robuste Quantennetzwerke zu verwirklichen. Im Rahmen seines vom ERC finanzierten Projekts will er Wechselwirkungen zwischen supraleitenden und optischen Schaltkreisen untersuchen, um sogenannte Qubits - die grundlegende Recheneinheit eines Quantencomputers - auf kilometerlangen Strecken zu verschränken.
Onur Hosten (ISTA) arbeitet an der noch nicht verstandenen Schnittstelle zwischen Gravitation und Quantenmechanik. Um für Experimente an dieser Schnittstelle ausreichend massive Objekte mit entsprechenden Gravitationskräften zu haben, die gleichzeitig quantenmechanisches Verhalten zeigen, will er ein auf kalten Atomensembles basierendes System entwickeln, mit dem sich mechanische Pendel besser steuern lassen. Ziel sind gravitationsvermittelte Quantenverschränkungstests.
Weitere Fördernehmer:innen
Jeremie Palacci (ISTA) will in seinem ERC-Projekt mittels neuer Strategien Materialien herstellen, die von innen heraus mit Energie versorgt werden und unkonventionelle mechanische und dynamische Eigenschaften aufweisen. Dazu sollen die Materialien durch eingebettete winzige Rührwerke gesteuert werden, mit mikroskopischer zeitlicher und räumlicher Auflösung.
Die Frage, wie wir die Welt in Abhängigkeit von unserem momentanen Zustand visuell wahrnehmen, steht ihm Mittelpunkt des ERC-Projekts des Neurowissenschafters Maximilian Jösch vom ISTA. Konkret erforscht er neuromodulatorische Strategien, die sensomotorische Prozesse verändern, etwa wenn wir unsere Sinne nutzen, um für eine Aufgabe angemessen zu reagieren. Damit will er dazu beitragen, die Komplexität der sensomotorischen Berechnungen in Gesundheit und Krankheit zu verstehen.
Jeweils zwei Förderpreise gehen an Wissenschafter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Technischen Universität (TU) Wien: Die Archäologin Edeltraud Aspöck vom Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der ÖAW widmet sich mit der ERC-Förderung dem Thema Graböffnungen. So wurden etwa auf frühmittelalterlichen Gräberfeldern manchmal fast alle Grabstätten bald nach der Bestattung wieder geöffnet. Sie will mit der Erforschung dieser Praxis zu einem besseren Verständnis der Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten im frühmittelalterlichen Europa beitragen.
Im Mittelpunkt des ERC-Projekts von Hubert Feiglstorfer vom Institut für Sozialanthropologie der ÖAW stehen traditionelle Bauformen, die lokale, nachhaltige Materialien nutzen und sich den unterschiedlichen klimatischen Bedingungen angepasst haben. Anhand von zwei Regionen in Eurasien will er erforschen, wie solche lokalen Bauarten durch die Klimakrise verändert werden und welche technischen Anpassungen etwa durch Bevölkerungswachstum und Globalisierung vorgenommen werden.
Der Physiker Andreas Grüneis vom Institut für Theoretische Physik der TU Wien will mit der ERC-Förderung neue Methoden entwickeln, mit denen man die Eigenschaften von Materialien berechnen kann. Solche Eigenschaften werden vom quantenphysikalischen Zusammenspiel vieler Teilchen bestimmt, für das man Näherungslösungen finden muss. Diese will er u.a. auf 2D-Materialien anwenden, die aus atomar dünnen Schichten bestehen und deshalb ganz spezielle Materialeigenschaften aufweisen.
2D-Materialien stehen auch im Mittelpunkt des ERC-Projekts von Bernhard Bayer vom Institut für Materialchemie der TU Wien. Er will diese mit sogenannten „Hoch-Entropie-Materialien“ kombinieren, bei denen unterschiedliche Atomsorten gemischt und recht zufällig angeordnet werden, um neuartige Materialeigenschaften hervorzurufen. Solche „Hoch-Entropie-2D-Materialien“ sollen für Elektronik oder neuartige Katalysatoren interessante neue Möglichkeiten eröffnen.
Der Physiker Wolfgang Bogner vom Hochfeld-MR Zentrum der Medizinischen Universität Wien will mit dem Förderpreis eine neue Bildgebungsmethode entwickeln, die auf Magnetresonanz (MR) basiert und die Verstoffwechslung von Zucker im gesamten menschlichen Körper darstellen kann. Zunächst will er damit zeigen, dass man den signifikant erhöhten Zuckerstoffwechsel von Tumoren bildhaft darstellen kann, um diese besser zu charakterisieren und letztendlich besser zu behandeln.
Ewing-Sarkome stehen im Zentrum des ERC-Projekts von Eleni Tomazou von der St. Anna Kinderkrebsforschung in Wien. Bei diesen kindlichen Knochen- und Weichteiltumoren sind die Überlebensraten niedrig und die Behandlung hat sich seit Jahrzehnten nicht verbessert. Weil die Erkrankung bisher nicht verstanden wird, will Tomazou solche Tumore mit Technologien wie Stammzell-Engineering im Labor nachbauen, um sie zu verstehen und für Medikamententests zugänglich zu machen.