Medizinhistorische Streifzüge – Folge 3

Der Zahnwehhergott

Wohin gingen die Menschen im Mittelalter, wenn sie an Zahnschmerzen litten, welche Rolle spielten dabei Mond und Holunder und was hat es mit dem sogenannten „Zahnwehhergott“ auf sich? Regelmäßig begibt sich Hans-Peter Petutschnig bei medinlive auf eine Zeitreise zu den Spuren der alten Wiener Medizin. Dabei gibt es viel zu entdecken, längst Vergangenes, mitunter Skurriles, Schockierendes oder auch Prägendes, oft gut verborgen unter baulichen Veränderungen der letzten Jahrhunderte. In dieser Folge: Der lange Leidensweg von Zahnschmerzen gepeinigter Menschen in früheren Zeiten.

Hans-Peter Petutschnig

Wer im Mittelalter an Zahnschmerzen litt – und das war wahrscheinlich häufig der Fall –, ging vorderhand zum „Zahnbrecher“, der mit verschiedenen Haken und Zangen die Zähne im Mund des Patienten bearbeitete. Damit dieser vor Angst und Schmerzen bei der Zahnbehandlung nicht davonlief, band der Bader den Kopf des Patienten mit Lederriemen fest. Der Zahn wurde mit Gewalt und ohne Betäubung herausgerissen. Reiche Wiener konnten sich zwar Zahnprothesen leisten, doch die hielten nicht lange und waren beim Essen zudem keine wirkliche Hilfe.

Zahnbrecher Mittelalter
Wer im Mittelalter an Zahnschmerzen litt, ging zum „Zahnbrecher“, der mit verschiedenen Haken und Zangen die Zähne im Mund des Patienten bearbeitete. Der Zahn wurde mit Gewalt und ohne Betäubung herausgerissen.


©Jost Amman and Hans Sachs / Frankfurt am Main, Zahnbrecher-1568, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

 

Es verwundert nicht sehr, dass viele Menschen der Tortur durch den Bader aus dem Weg gingen und lieber auf Hilfe „von oben“ hofften. Die Darstellung von Christus als Schmerzensmann mit Wundmalen und Dornenkrone zierte viele Kirchen des ausgehenden Mittelalters. Auch am Stephansdom befindet sich eine solche Schmerzensmanndarstellung, und zwar an der östlichen Außenseite hinter dem Chor. Seinen Namen als „Zahnwehherrgott“ verdankt er einer Sage. Als Studenten in der Nacht den Stephansfriedhof überquerten, verspotteten diese den Schmerzensmann. Früher war es üblich, Christusdarstellungen mit Blumen zu schmücken. Bei besagtem Halbrelief waren die Blumen mit einem Tuch über dem Kopf befestigt – was die jungen Zecher flugs als Zahnschmerzen beim Herrgott deuteten. Noch in derselben Nacht bekamen die drei aber selbst fürchterliche Zahnschmerzen, die erst wieder nachließen, als sie am darauffolgenden Tag zum Dom zurückkehrten und sich entschuldigten. Seither haben zahlreiche Wienerinnen und Wiener den „Zahnwehherrgott“ aufgesucht, um so von ihren Leiden geheilt zu werden.

Zahnwehhergott Stephansdom
Am Stephansdom befindet sich eine Schmerzensmanndarstellung an der östlichen Außenseite hinter dem Chor. Seinen Namen als „Zahnwehherrgott“ verdankt er einer Sage.

© Stefan Seelig

 

Wie oft dies vom Erfolg gekrönt war, ist leider nicht überliefert. Aber es gab Alternativen, so zum Beispiel die Anbetung der heiligen Apollonia. Sie wird meist als Jungfrau mit den Attributen ihres Martyriums dargestellt – Märtyrerpalme, Krone beziehungsweise Lorbeerkranz sowie Zange oder Zähne. Wegen der Art ihres Martyriums wurde sie von den Menschen vor allem bei Zahnschmerzen oder -leiden angebetet. Heute ist sie die Schutzpatronin der Zahnärzte.

Ebenfalls „Hilfe von oben“ versprach die Auseinandersetzung mit dem Mond. Sobald bei Neumond zum ersten Mal die Mondsichel – “dat nüe Licht“ (das neue Licht) – am Himmel sichtbar wurde, musste der von Zahnschmerzen Geplagte sich mit einem der nachfolgenden Reime an den Mond wenden: „Ach du liebes neues Licht! / Behüte mich, mein Gott, vor meiner Zähne Gicht! / Dass sie mich nicht möchten reizen – spreizen – schwären – quälen.“ Oder: „Alle Psalmen sind gesungen / Alle Glocken sind verklungen / Alle Evangelien sind gelesen / Alle Heiligen sind gewesen / Das Feuer in meinen Zähnen soll verwesen.“

Noch obskurer war da nur mehr das Übertragen von Zahnschmerzen auf Bäume – eine häufig praktizierte Methode, wenn sonst nichts mehr half. Ein gewisser Michael Babst von Rochlitz etwa empfahl 1592 allen Schmerzgeplagten, in einen Holunder ein Loch zu bohren, darin die abgeschnittenen Hand- und Fußnägel sowie Haare zu stecken und es anschließend dicht zu verschließen: „Für die Wehtagung der Zeene. Wenn man etwas von den Nägeln an henden vnd füssen / deßgleichen auch etwas von Haaren abschneidet / vnd dasselbige zusammen in ein Holunderbaum vermachet / vnd das Loch fein sauber wider zumachet / so solle die wehtagung nachlassen.“

Auch hier fehlen Angaben über den Erfolg dieser Methode. Aber zumindest hat sie keinen weiteren Schaden bei den bedauernswerten Schmerzpatienten verursacht.

Dass Zähne gepflegt werden müssen, war übrigens auch früher schon bekannt. Um die Zähne weiß zu halten, wurden sie mit Korallen- oder Bimssteinpulver poliert – um den damit auch zerstörten Zahnschmelz kümmerte man sich weniger. Zum Gurgeln verwendete man Salpetersäure. Schätzungen sprechen davon, dass in etwa 80 Prozent der Bevölkerung im Mittelalter unter Zahnfäule litten. Oft war dann das Zahnziehen durch den Bader die letzte Rettung – wer sich denn weder auf den „Zahnwehherrgott“, die heilige Apollonia, den Mond oder den Holunder verlassen wollte.

 

Hans-Peter Petutschnig ist seit vielen Jahren für die Pressearbeit und den Verlag der Wiener Ärztekammer verantwortlich. Er ist zudem stellvertretender Kammeramtsdirektor der Ärztekammer für Wien und organisiert zahlreiche kulturelle Veranstaltungen für Ärztinnen und Ärzte. Zusammen mit der staatlich geprüften Wiener Fremdenführerin sowie Kunst- und Kulturvermittlerin Bibiane Krapfenbauer-Horsky hat er das Buch „Auf den Spuren der alten Heilkunst in Wien – Medizinische Spaziergänge durch die Stadt“ verfasst.

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Stefan Seelig
„Dass Zähne gepflegt werden müssen, war übrigens auch früher schon bekannt. Um die Zähne weiß zu halten, wurden sie mit Korallen- oder Bimssteinpulver poliert – um den damit auch zerstörten Zahnschmelz kümmerte man sich weniger.“