Der britische Patient - 75 Jahre Gesundheitsdienst NHS

Ein Gottesdienst mit royalem Gast: Zum 75. Geburtstag werden dem britischen Gesundheitsdienst NHS große Ehren zuteil. In der Londoner Westminster Abbey, wo kürzlich König Charles III. gekrönt wurde, erklingt an diesem Mittwoch (5. Juli) das Lob für Hunderttausende Ärzt:innen und Pflegekräfte. Nur angemessen, sagen viele, die das National Health Service als Helden der Pandemie erlebt haben. Doch die glänzende Fassade trügt gewaltig.

red/Agenturen

Nicht nur, weil die Briten eine Hassliebe mit dem steuerfinanzierten Dienst verbindet, wie die BBC kommentierte. Vielmehr liegt der Jubilar längst selbst auf der Intensivstation - und die Versorgung fällt immer schwerer.

Rund 7,42 Millionen Menschen warteten im April auf eine Routineversorgung - so viele wie noch nie. Fast 3,1 Millionen davon standen länger als 18 Wochen, die als Maximum vorgegebene Zeit, auf den Wartelisten. 371.000 harrten sogar schon mehr als ein Jahr aus. Premierminister Rishi Sunak hatte versprochen, die Wartezeiten deutlich zu reduzieren. Seitdem ist die Zahl aber auf einen Rekordwert gestiegen. Stand jetzt ist Sunak gescheitert - wie mit so vielen Ankündigungen.

Auch bei Notfällen dauert es deutlich länger als vorgegeben, bis ein Rettungswagen eintrifft. Viele Briten kennen Horrorgeschichten, bei denen etwa ältere Menschen nach einem Sturz einen Tag auf dem Boden verbringen mussten, bevor Hilfe eintraf. Nur noch 29 Prozent sind mit dem NHS zufrieden, wie eine Erhebung im Frühling ergab - der niedrigste Wert seit Beginn der Befragung vor 40 Jahren.

NHS: Gipfel des Wohlfartsstaats nun Symbol für „broken Britain“

Das war 1948 ganz anders. Die Euphorie war gewaltig. „Das einzige Ding, das nicht nachgefragt wurde, war ein Glasauge“, berichtete ein Arzt über den ersten Tag. Öffentlichkeitswirksam meldete sich auch der damalige König George VI. mit seiner Familie - und also auch seiner ältesten Tochter, der künftigen Queen Elizabeth II. - an. Der frühere Finanzminister Nigel Lawson sagte einmal, der NHS sei für die Briten das, „was einer Religion am nächsten kommt“.

Der Dienst bietet jedem Einwohner des Vereinigten Königreichs eine medizinische Versorgung, sowohl über Hausärzte, GP genannt, als auch in Krankenhäusern. „Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind kann ihn nutzen“, warb die Regierung damals. „Es gibt kein Höchstalter und keine Kosten.“ Der NHS war der Gipfel des Wohlfahrtsstaats - und ist nun für viele das Symbol für „broken Britain“, ein „zerbrochenes“ Großbritannien, in dem nichts mehr funktioniert.

Der Jubilar liegt längst selbst auf der Intensivstation - und die Versorgung fällt immer schwerer

Beispiel Streiks: In vielen Branchen kam es seit vorigem Sommer zu Arbeitskämpfen. Wegen der rasant steigenden Lebenskosten fordern Beschäftigte höhere Löhne, bei den Bahnen, der Royal Mail, in Behörden - und auch beim NHS. Erstmals in ihrer Geschichte riefen Mediziner-Gewerkschaften zum Streik auf. Etwa 650.000 Termine und Operationen mussten deshalb verlegt werden. Noch immer sind in einigen Bereichen die Fronten verhärtet. Kurz nach dem NHS-Jubiläum wollen Ärzt:inne fast eine Woche streiken, das gab es so lange noch nie.

Der Vertrauensverlust zwischen Regierung und NHS-Kräften sei auf einem historischen Hoch, sagte Phil Banfield vom Ärzteverband British Medical Association (BMA) der britischen Nachrichtenagentur PA. Es sei eine Farce, dass die Mediziner keine andere Möglichkeit mehr sähen als Streiks. Die Arbeitsbedingungen werden immer schwieriger, mehr Geld gibt es aber nicht. Auch deshalb verlassen viele Fachkräfte den NHS. Viele EU-Beschäftigte sind bereits wegen des Brexit weg. Nach Regierungsangaben fehlen 112.000 Mitarbeiter allein in England.

Neustart mit vielen Baustellen

Mit einer gewaltigen Reform will Premierminister Sunak nun den britischen Patienten wieder aufpäppeln. Mehr als 300.000 zusätzliche Ärzt;innen, Pflegekräfte und andere Mitarbeiter sollen in den kommenden 15 Jahren eingestellt werden, zudem sind Änderungen bei der Ausbildung geplant. Bis zur nächsten Parlamentswahl, die für 2024 geplant ist, dürften die Maßnahmen aber kaum greifen. Keine guten Aussichten für Sunaks Konservative Partei, die in Umfragen deutlich zurückliegt.

Schon 1948 waren nicht alle euphorisch. „Es wird kein Wunder geschehen, wenn der neue Gesundheitsdienst am 5. Juli beginnt“, sagte John Edwards, damals rechte Hand des Gesundheitsministers. „Es gibt viele veraltete Gebäude, es mangelt an Ausrüstung und Personal, und es wird 60.000 Betten geben, die nicht genutzt werden können, weil es nicht genügend Pflegekräfte gibt.“ Fast scheint es, als wäre der NHS seit seiner Gründung keinen Schritt weiter. Eine Privatisierung als Lösung kommt aber nicht in Betracht. 90 Prozent der Briten wollen, dass das Angebot weiterhin kostenlos für alle zur Verfügung steht.

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75 Jahre gibt es den britischen Gesundheitsdienst: Der Jubilar liegt längst selbst auf der Intensivstation und die Versorgung fällt immer schwerer.
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