Lieferengpässe ohne schnelles Ende

In Österreich sind derzeit 636 Arzneimittel in der öffentlich einsehbaren AGES-Liste der nicht oder nur beschränkt lieferbaren Arzneimitteln. Ein schnelles Ende ist nicht in Sicht, die Situation nach Ende von Covid-19-Pandemie und Influenza-Welle unerwartet gravierend, Politikerversprechen zweifelhaft, erklärten Freitagabend Experten bei den Praevenire Gesundheitsgesprächen in Alpbach in Tirol (bis 10. Juli).

red/Agenturen

Die Lage rund um die Arzneimittel-Lieferengpässe mit frustrierten Patient:innen, Ärzt:innen und Apotheker:innen ist in Österreich und in vielen Ländern Europas weiterhin ungelöst. Man hätte geglaubt, dass sich mit dem Ende der Covid-19-Pandemie, dem Abklingen der saisonalen, heftigen Influenza-Welle und dem Rückgang von bakteriellen Infektionen wie Scharlach (Antibiotika) die Situation wieder bessere, sagte Günter Waxenecker, Leiter der AGES-Medizinmarktaufsicht.

Doch die Probleme sind akut und weisen auf tiefer liegende Systemmängel in der Arzneimittelversorgung in der EU und in Österreich hin. Waxenecker: „Wir haben heute 636 Produkte als nicht oder nur eingeschränkt lieferbar gelistet. Das ist ähnlich wie im März und April. Irgendwo muss das Material ja sein (...).“

Viel Zeit verloren

Den größten Überblick dürfte der Arzneimittel-Großhandel haben, der ja zwischen Herstellern und Apotheken agiert. Bernd Grabner, Präsident der europäischen Dachorganisation des Arzneimittel-Vollgroßhandels und Geschäftsführer des österreichischen Arzneimittelgroßhändlers Jacoby: „Ich habe zum Thema der Lieferengpässe drei Thesen: Es wurde viel zuviel Zeit verloren bisher. Zuviele Köche verderben den Brei. Es fehlt an Offenheit.“

Er, Grabner, sei seit Anfang an in der Task Force des österreichischen Bundesamts für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) zu den Lieferengpässen gewesen. Seine Erfahrungen: „Wir haben eineinhalb Jahr die Zeit damit verbracht, die Frage zu diskutieren, ob es überhaupt Lieferengpässe gibt oder das alles nicht wahr ist. Die zweite Hälfte der Zeit haben wir diskutiert: 'Wer ist schuld?', statt konstruktive Lösungen zu finden.“

Wirrwarr an Zuständigkeiten

In der EU und auch in Österreich würde in der Arzneimittelversorgung ein Wirrwarr an zuständigen Stellen und Teilinteressen vorherrschen. Das mache eine Reaktion auf die Probleme extrem schwierig, meinte der Experte. „Normalerweise sagt man, dass die Regeln aus der Brüssel kommen, die Lösungen von der eigenen Regierung. Aber das funktioniert leider in diesem Fall auch nicht.“

Als Beispiel nannte Grabner einen Entwurf für die Vorratshaltung von Arzneimitteln in Österreich. Da hätte man das finnische System zu kopieren versucht. „Finnland hatte schon seit langem große Vorräte an Arzneimitteln. (...) Nur, Finnland hat ein völlig anderes System der Arzneimittel-Distribution.“ In dem skandinavischen Land suche sich jedes Arzneimittelunternehmen einen exklusiven Großhändler für seine Produkte aus. In Österreich gebe es hingegen fünf Vollgroßhändler, die Koordination einer Lagerhaltung sei damit schwierig.

Hinzu kommt, so der Experte, dass man sich in Österreich bisher weder über den Platz für eine Arzneimittellagerhaltung, noch über die Finanzierung und das Management ausreichend Gedanken gemacht habe. „Was passiert, wenn die Dinge (Arzneimittel; Anm.) ablaufen?“

Schließlich fehle es in Österreich an Offenheit in der Debatte. Grabner: „In Wahrheit muss man sagen, dass die Verantwortlichen für die Lieferengpässe in vielen Fällen nicht in Österreich sitzen.“ Mit der Globalisierung gebe es viele mögliche Bruchstellen in dem System. Arzneimittelproduktionen in die EU zurückzuholen, das werde zehn bis 15 Jahre dauern.

Politikerversprechen halten nicht

Heftige Kritik äußerte der Experte schließlich auch an den Aussagen von Politikern: „Viele Maßnahmen, die man ankündigt, sind politisch motiviert. Unser aktueller Gesundheitsminister (Johannes Rauch, Grüne; Anm.) hat ja auch im Laufe des Frühjahrs gesagt: 'Im Herbst wird es keine Lieferengpässe mehr geben'. Wir fragen uns alle, wie er das macht. Aber irgendwann wird er uns das schon sagen.“

Jedenfalls seien rund 80 Prozent der Arzneimittel-Lieferengpässe national und sollten managebar sein. Grabner nannte hier die Niederlande als mögliches Beispiel. Dort existiert das System „Minerva“. „Die Behörde kann bis in die einzelne Apotheke hineinschauen, was dort auf Lager liegt.“ Man könne sogar Arzneimittel von Amts wegen rückfordern, um sie umzuverteilen.

BASG-Chef Waxenecker betonte ebenfalls, dass es in Österreich bisher keine Möglichkeit gibt, die Versorgungslage der einzelnen Apotheken zu erheben. Auch durch die verschiedenen Großhandels-Apotheken-Beziehungen können bestimmte Arzneimittel in der einen Apotheke verfügbar sein, in der nächsten schon wieder nicht mehr. Ein zweites Manko, so der Experte: Die Ordinations-Software-Hersteller hätten es bisher offenbar nicht geschafft, die AGES-Liste der nicht oder eingeschränkt lieferbaren Medikamente in die Verschreibungssoftware direkt so einzubauen, dass die niedergelassenen Ärzt:innen sofort auf mögliche Probleme aufmerksam gemacht werden.

Mangelmanagement

Teilinteressen von großen „Playern“ im Gesundheitssystem dürften die Problematik noch weiter verschärfen. Lieferengpässe bei Arzneimitteln treffen nämlich vor allem die patentfreien Nachahmeprodukte, für welche die Krankenkassen immer weniger bezahlen wollen. Das führte laut Experten in den vergangenen Jahren auch zum Abfließen der Arzneimittelproduktion in Länder wie China und Indien.

Wolfgang Andiel, Chef des österreichischen Generika-Verbandes: „Wir beschäftigen uns in erster Linie mit Mangelmanagement. Wir kennen die systemischen Ursachen, erkennen sie teilweise nicht an - und machen munter weiter wie bisher. Natürllich haben die Biosimilars (nachgebaute Biotech-Medikamente nach Ablauf der Patentfrist; Anm.) und Generika die Funktion, Kosten zu sparen (...). Das hat viele Jahre funktioniert, hat aber jetzt ein Ende erreicht. Wir sehen als Spitze des Eisbergs, dass durch den starken Preisdruck unternehmensseitig reagiert werden muss.“ Das schränke die Flexibilität in der Produktion ein.

In Österreich drücke der Dachverband der Sozialversicherungsträger derzeit gerade mit einer neuen Preisband-Regelung für erstattungsfähige Arzneimittel weiter auf die Preise. Allein ab 1. Oktober würden damit rund 80 Millionen Euro aus dem System der patentfreien Medikamente genommen. Das könne die Versorgungssicherheit zusätzlich gefährden. Andiel: „72 Prozent der patentfreien Medikamente im grünen Bereich (frei verschreibbar; Anm.) des Erstattungskodex (der österreichischen Krankenkassen; Anm.) haben nur noch ein bis drei Hersteller.“ Produktionsprobleme, Schwierigkeiten in der Lieferkette und eventuelles Ausscheiden aus der Produktion wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit können damit die Folge sein.

WEITERLESEN:
Vorteile der Gentherapie nützen
Medikamente
In Österreich sind derzeit hunderte Arzneimittel in der öffentlich einsehbaren AGES-Liste der nicht oder nur beschränkt lieferbaren Arzneimitteln. Ein schnelles Ende ist nicht in Sicht.
Pexels